Ein Person beugt sich über eine andere Person, die an einem Schreibtisch sitzt und ein Tablet bedient.

Seit 30 Jahren würden die Defizite behinderter Kinder in den Mittelpunkt gestellt, statt über deren tatsächlichen Förderbedarf oder alternative pädagogische Settings und deren Bildungs- und Entwicklungsperspektiven nachzudenken, sagt Thomas Hoffmann.

Unter­schiede beim Umgang mit behin­der­ten Schü­lern

Ob Schülerinnen und Schülern mit einer körperlichen oder psychischen Behinderung Sonderpädagogischer Förderbedarf (SPF) attestiert wird, hängt stark davon ab, in welchem Bundesland sie leben, zeigt eine aktuelle Studie unter Beteiligung der Uni Innsbruck. Wegen schwammiger Kriterien für den SPF haben sich nämlich in den Ländern ganz unterschiedliche Praktiken etabliert, einheitliche Begutachtungskriterien und Qualitätsstandards fehlen. Die Studienautoren fordern eine Reform.

Schüler mit SPF können Förderung durch spezielles Lehrmaterial oder Lehrer bekommen oder in einem oder mehreren Fächern nach dem Lehrplan einer niedrigeren Schulstufe oder anderen Schulart unterrichtet werden. Doch nicht nur der Anteil an Schülern, denen SPF attestiert wird, schwankt laut der am vergangenen Woche präsentierten Studie je nach Bundesland stark von 2,4 Prozent in Tirol bis zu 6,7 in Salzburg. Es gibt auch große Differenzen nach Geschlecht (in Niederösterreich sind 21 Prozent der Kinder mit SPF Mädchen, im Burgenland 44) sowie bei der durchschnittlichen Bearbeitungsdauer der SPF-Anträge, beim Alter, in dem die Schüler erstmals einen SPF-Bescheid bekommen, und bei der Frage, ob sie nach dem normalen oder dem Sonderschullehrplan unterrichtet werden.

Unterschiede bei den diagnostischen- und Begutachtungsverfahren

Als Ursachen für die Abweichungen nannte Studienmitautor Thomas Hoffmann vom Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung der Uni Innsbruck Unterschiede bei den diagnostischen- und Begutachtungsverfahren, außerdem würden in einigen Bundesländern die gesetzlichen Kriterien für den SPF sehr weit ausgelegt, etwa bei den häufigsten Diagnosen Lern-/Leistungsbeeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und kognitive Beeinträchtigung. Laut der Erhebung wurden etwa je nach Bundesland bzw. Region unterschiedlich viele Behinderungen pro Schüler diagnostiziert. Als Extrembeispiel nannte er, dass im Burgenland bei weniger als einem Prozent eine Sehbehinderung festgestellt wurde, in Tirol hingegen bei mehr als 10.

Die Sprecherin des Forschungskonsortiums, Barbara Gasteiger-Klicpera (Uni Graz), sprach von einem jeweils gut begründbaren Versuch der Länder, eine faire Zuordnung von Ressourcen zu ermöglichen. Auch in der Lehrplanzuordnung werde teilweise sehr differenziert vorgegangen, um für Schüler mit Behinderung die Möglichkeiten von inklusivem Lernen zu erweitern. Für eine Harmonisierung sollten die Bundesländer ihre Praktiken gemeinsam weiterentwickeln. Der Unterricht müsse künftig so gestaltet werden, dass jedes Kind auf seinem jeweiligen Lernniveau gefördert werden kann, fordert das Forschungsteam. Förderangebote sollte es auch ohne harte Diagnose geben, wie das schon jetzt in einigen Bundesländern der Fall ist.

Hoffmann übte auch ganz grundsätzliche Kritik am SPF-System: Seit 30 Jahren würden dabei die Defizite behinderter Kinder in den Mittelpunkt gestellt, statt über deren tatsächlichen Förderbedarf oder alternative pädagogische Settings und die Bildungs- und Entwicklungsperspektiven der Schüler nachzudenken. Die dem SPF-Verfahren derzeit zugrunde gelegte medizinische Definition widerspreche dem von der UN geforderten menschenrechtlichen Modell von Behinderung, das Verfahren müsse deshalb grundsätzlich in Frage gestellt werden, forderte auch Wilfried Prammer von der Pädagogischen Hochschule (PH) Oberösterreich.

SPF taugt nicht zur Verteilung zusätzlicher Ressourcen

„Wenn der Unterricht barrierefrei ist, braucht man keinen SPF“, betonte Gasteiger-Klicpera. Auch ohne Notendruck würden viele SPF-Anträge obsolet, so Hoffmann. Immerhin bekommen 77 Prozent der SPF-Schüler ihren Bescheid, um Druck herauszunehmen, nachdem sie schon eine Klasse wiederholen mussten. Zur Verteilung zusätzlicher Ressourcen tauge der SPF außerdem ohnehin nicht, hob Prammer hervor. Immerhin gebe es nur für maximal 2,7 Prozent der Pflichtschüler mit Behinderung zusätzliche Ressourcen, unabhängig davon wie viele SPF-Schüler es tatsächlich gibt. Wie viele Mittel die Länder selbst zusätzlich in die Hand nehmen, sei mangels belastbarer Daten unklar.

Die Umstellung des Systems von 2019, wonach der SPF nicht mehr von den Sonderschuldirektoren, Pflicht- oder Landesschulinspektoren sondern von Juristen in den Bildungsdirektionen getroffen wird, brachte zumindest beim SPF-Anteil keine dramatischen Änderungen. Positiv sei, dass der juristische Prozess dadurch erleichtert worden sei, berichtete Gasteiger-Klicpera aus den Experten-Interviews. Gleichzeitig sei aber die pädagogische Förderung stärker aus dem Blick geraten, bedauerte sie.

Für die Untersuchung, an der sich 14 Unis und PHs beteiligt haben, wurden die Daten aller derzeit rund 26.000 SPF-Schüler sowie 454 SPF-Gutachten analysiert. Außerdem wurden knapp 300 Personen (Eltern, Lehrpersonal, Schulleitungen, Diversitätsmanager) sowie 31 Expertinnen und Experten befragt.

(Red./science.apa.at)

 

Abschlussbericht: Evaluierung der Vergabepraxis des sonderpädagogischen Förderbedarfs (SPF) in Österreich
www.uibk.ac.at/ils/mitarbeiter/hoffmann/download/gasteiger.et.al.2023-evaluierung-spf-vergabepraxis.pdf

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