Regionale Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung

Die Beschäftigung mit der Geschichte, insbesondere mit der
Kulturgeschichte einer Region stand lange Zeit nicht gerade hoch im
Kurs. Schon gar nicht in den Jahren und Jahrzehnten nach 1945, aus guten
Gründen. Inzwischen hat sich das völlig geändert. Zum einen, weil nach
1989 im Zuge der Globalisierung und der Neuordnung Europas die Bedeutung
der Nationalstaaten mehr und mehr geschwunden und im Gegenzug die
Bedeutung der Regionen wieder entdeckt worden ist (und das nicht nur auf
Bauernmärkten). Zum andern, weil die Forschung sich von älteren
Positionen, der stammesgeschichtlichen Betrachtungsweise zum Beispiel,
radikal losgelöst und ganz neue Perspektiven, aber auch neue Methoden
entwickelt hat, um regionale Entwicklungen zu beobachten, zu beleuchten,
in größeren Zusammenhängen kritisch oder jedenfalls angemessen
darzustellen.
Die regionalen und lokalen Kulturräume sind ja
längst schon offene Räume. Künstler, Intellektuelle, Autorinnen und
Autoren, die nie die Grenzen ihrer Region überschritten, nie die
Entwicklungen in anderen Regionen der Welt zur Kenntnis genommen haben,
gibt es kaum mehr. Im Gegenteil: Sie sind eher permanent unterwegs, in
anderen Ländern, in fremden Kulturen, in virtuellen Welten; und auch
wenn sie nicht an verschiedenen Welten gleichzeitig teilnehmen, um ihre
eigene Welt nicht zu verlieren, so betrachten sie doch diese eigene Welt
in der Herkunftsregion mit anderen Augen: skeptisch zumeist, manchmal
allerdings erst recht mit Zuneigung.
In jeder Region fördert das
kollektive Gedächtnis die Entwicklung einer eigenen, einer möglichst
unverwechselbaren Identität. Aus der Geschichte wird dabei
hervorgehoben, was im Interesse der Gegenwart besonders brauchbar und
verwertbar erscheint. Die Literatur kann diesen Konstruktionsprozess
begleiten, massiv befördern, aber auch stören, indem sie den Blick auch
von außen wahrt und damit jeder Erstarrung, jeder ideologischen
Festlegung ins Handwerk pfuscht. Sie sieht nicht nur den eigenen
Kulturraum, und den schon gar nicht als einen nach außen
abgeschlossenen, und damit plädiert sie in der Regel für mehr Offenheit,
mehr Aufgeschlossenheit auch nicht-vertrauten Positionen gegenüber,
mehr Toleranz. Und sie erschüttert alle Geschichts-Konstruktionen, die
das Eigene allem Fremden gegenüber immer schon vorgezogen und damit nur
ihre Borniertheit herausgestellt haben.
Regionale Kultur- und
Literaturgeschichtsschreibung muss diese Prozesse sichtbar machen und
gleichzeitig im Auge behalten, wie die ganz spezifischen Entwicklungen
in einer Region im Zusammenhang stehen mit nationalen und
internationalen Strömungen: wie z. B. die Schriftstellerinnen und
Schriftsteller unter den eigenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
sich behaupten, wie sie Anregungen von außen aufnehmen, wie sie
ihrerseits über die Grenzen der Region hinaus wirken. – Südtirol ist ein
besonders interessanter Modellfall, ist doch in dieser Region das
Phänomen der Mehrsprachigkeit und der Transkulturalität immer schon
präsent und lange genug ein Zankapfel der Kulturpolitik gewesen;
inzwischen aber ist in diesem Land eine Entwicklung eingeleitet worden,
die in vielem für andere Regionen geradezu vorbildhaft erscheint:
Deshalb
ist es auch ein Glücksfall gewesen, dass diese Tagung über Raum –
Region – Kultur, zu der auf Einladung des Brenner-Archivs und des
Südtiroler Kulturinstituts renommierte Fachleute aus verschiedenen
Ländern gekommen sind, in Südtirol stattfinden konnte. In der einmaligen
Atmosphäre, die das Schloss Goldrain für Arbeitstagungen bietet, war
das ungemein dichte Programm, das neben Vorträgen auch Lesungen (mit
Sabine Gruber, Sepp Mall und Josef Oberhollenzer) und intensiv geführte
Diskussionen umfasste, ohne weiteres zu bewältigen. Die Erträge der
Tagung (eine Reihe neuer Perspektiven und Verfahrensweisen der
einschlägigen Forschung, begriffliche wie auch methodische
Klarstellungen, Fallstudien u.a.m.) werden in einem Sammelband
publiziert, der von Marjan Cescutti, Johann Holzner und Roger
Vorderegger betreut wird und 2013 in der Reihe der Schlern-Schriften
erscheinen soll.
(Johann Holzner)