Sprache, Modelle der Welt und „wissenschaftliches Glück“
Anschaulich umriss Hubert Huppertz sein Forschungsgebiet, die Festkörperchemie, innerhalb derer er sich weniger der Charakterisierung bestehender Stoffe in festem Aggregatzustand verschrieben hat, als vielmehr erforscht, wie unter extremen Wärme- und Druckbedingungen selbst feste Substanzen zur Umsetzung gebracht und so neue Verbindungen erzeugt werden. Für das mehrheitlich in den Geistes- und Kulturwissenschaften sozialisierte Publikum verdeutlichte der Chemiker seine Arbeit am Rand des Bekannten und Existenten anhand einer neuartigen Europium-Silicium-Verbindung, die er Ende der 1990er Jahre schuf und erstmals beschrieb. Diese Entdeckung – oder beinahe: Erfindung – reizte die Grenzen des etablierten chemischen Wissens ebenso aus wie jene der Akzeptanz innerhalb der scientific community und wurde daher in einem „Low-low-low-Impact-Journal“ publiziert, wie Huppertz betont. In Verbindung mit einer zweiten Substanz und nach über einem Jahrzehnt Forschungsarbeit lieferte diese Verbindung jedoch den Schlüssel für die Entwicklung moderner LED-Lampen mit warmweißen Licht, die heute weltweite Verbreitung gefunden haben und einen wesentlichen Beitrag zur Reduktion des globalen Stromverbrauchs leisten. Ausgehend von diesem Beispiel plädierte Huppertz für eine „voraussetzungsfreie Grundlagenforschung“, die in seiner Disziplin zwar weitgehend dem Prinzip der Serendipität, mithin der zufälligen Erschließung von etwas nicht von vornherein Gesuchtem, unterliege und sich konventioneller Planung entziehe, aber neue Wissensbestände schaffe und die Basis für künftige Innovationen legen könne. In der Diskussion räumte Huppertz auch das durchaus persönliche Glücksmoment ein, das es bedeutet, den im Labor erzeugten „Weltvorrat einer neuen Substanz“ in Händen zu halten.
Glück hält Thomas Wegmann, der zweite Referent des Abends, der mitunter zum Verhältnis von Literatur und Ökonomie, von Reklame und Dichtung arbeitet, ironisch für eine überschätzte Größe. Doch schließt er an Huppertz’ Forderung nach einer Grundlagenforschung an, die nicht durch die Frage nach einem unmittelbaren Nutzen enggeführt wird. Kunst, so Wegmanns Verständnis, „leistet nichts, beweist nichts“, sondern „macht sich selbst notwendig“; den Blick auf „kunstfremde Konditionierungen“ hält er daher für unangebracht. Zunächst spannte Wegmann jedoch das Spektrum auf, das sich in seiner Disziplin zwischen einem betonten Methodenpluralismus bei der ständigen (Re-)Lektüre von Texten und einem ausgewiesenen Methodenskeptizismus eröffnet. Persönlich sieht Wegmann in der Methodenfrage im Umgang mit Autor, Leser, Text und Kontext die Gretchenfrage seines Faches und der Literaturwissenschaft im Allgemeinen. Als den Kern der Beschäftigung mit Literatur macht Wegmann die „Selbstautorisierung eines Textes in Abwesenheit seines Urhebers“ aus: Jeder Text spreche in die jeweils eigene Zeit hinein, weise aber zugleich über sie hinaus, indem er – schriftlich fixiert und über die Zeit hinweg stabilisiert – bei der Lektüre eine „Illusion der Zeitgleichheit“ erwecke und so eine „Welt in der Welt erscheinen“ lasse. Literarische Texte unterliegen zudem der „Paradoxie der Notwendigkeit des Möglichen“, die sie dazu zwinge, ihr So-und-nicht-anders-Sein als ein Ganzes plausibel zu machen, das Eingriffe in den Text zerstören, wie Wegmann anhand der keinesfalls beliebigen Interpunktion in Heinrich von Kleists „Gebet des Zoroaster“ verdeutlicht. Die Aufgabe und zugleich die Kompetenz von LiteraturwissenschaftlerInnen sieht der Germanist resümierend darin, über den bloßen Nachvollzug von Narrativen und eine mit Affekten assoziierte Lektüre hinaus, wie sie auch vor- und außerwissenschaftlich geleistet wird, die Aufmerksamkeit und Neugierde auf das vermeintlich Unbedeutende zu lenken, die Komplexität des scheinbar Einfachen herauszupräparieren und die Relevanz von Mehrdeutigkeit zu vermitteln.
Worüber und in welcher ‚Sprache‘ sprechen nun zwei Vertreter so unterschiedlicher Wissenschaftskulturen und -traditionen, wenn sie miteinander sprechen? Zunächst über Sprache. Einhellig gestanden der mehrheitlich auf Englisch publizierende Chemiker und der Germanist ein, in einer Fremdsprache jene Nuancen einzubüßen, mit der es ihre jeweiligen Forschungsergebnisse sprachlich zu fassen und zu vermitteln gilt. Gemeinsam gingen sie der Frage nach einem grundlegend unterschiedlichen Umgang mit Sprache in den Geistes- bzw. in den Naturwissenschaften nach: Während Sprache in letzteren hinter die außersprachlichen Referenzinhalte zurücktrete und sich als Medium gewissermaßen unsichtbar mache, hebe sie in ersteren meist ihrerseits auf Sprache und Texte ab und fungiere damit als Meta-Sprache sprachlicher Äußerungen, ohne sich jedoch vollends auf ihre reine Darstellungsfunktion einerseits und ihre Erkenntnisfunktion andererseits reduzieren zu lassen. Was sich sprachlich nicht hinreichend fassen lasse, sei häufig über bildgebende Verfahren und Visualisierungen einzufangen, so Huppertz für seine Disziplin, wohingegen Wegmann die unhintergehbare Bedeutung von diskursiven Formen für seinen Zugang zu Welt und Wissen unterstreicht und als zentrales Element seiner Lehre im Umgang mit Studierenden geltend macht, die zunehmend mit digitalen Medien und Bilderwelten sozialisiert werden.
Gemeinsamkeiten legen die beiden Wissenschaftler in ihrem Gespräch, das der Systematische Theologe Roman Siebenrock moderierte, in ihrem jeweiligen Umgang mit und Verständnis von Modellen frei. Modelle reduzieren die Komplexität von Welt, Kultur und Wirklichkeit, machen diese dadurch aber erst beschreib- und erforschbar. Huppertz illustriert dies für seine Disziplin anhand simplifizierender Atom-Modelle, die zwar unzureichend seien, sich für das „Spiel mit den atomaren Bällen“ jedoch durchaus eignen, Wegmann sekundiert mit dem Beispiel systemtheoretischer Zugriffe auf Gesellschaften. Beide sehen in Modellen die nötige Basis und das Spielfeld der Möglichkeiten für selbstreflexives wissenschaftliches Arbeiten. Und beide machen Gefahren dort aus, wo Modelle absolut gesetzt, deren potentielle Unzulänglichkeiten verkannt und die Überholung von Wissen, Lehrmeinungen und Weltsichten negiert werden. Dessen ungeachtet sieht der Chemiker Huppertz in den wissenschaftlichen Methodenstandards und theoretischen Modellen, die eine jeweilige (naturwissenschaftliche) scientific community aushandelt, die gültigen, potentiell jedoch fehlbaren Maßstäbe für Objektivität. Dagegen entließ Wegmann Objektivität aus dem Anspruch seiner Disziplin – und provozierte damit den Widerspruch eines Fachkollegen. Wie die Modellbildung des einen Faches in das andere hineinragen kann, zeichnete Wegmann abschließend anhand Goethes Roman „Wahlverwandtschaften“ nach, das ein auf dem Stand der Zeit bereits überholtes Modell von der Anziehung und Abstoßung chemischer Verbindungen auf zwischenmenschliches Verhalten überträgt und damit ein Verständnis der ‚anderen‘ Fachtraditionen erforderlich macht, um den ‚eigenen‘ Forschungsgegenstand adäquat erfassen zu können.
(Matthias Hoernes)