S. Rosenberger/G. Seeber: Kopf an Kopf
Was ist in der Politik wirklich? Oder ist diese Frage gar nicht von Belang, weil doch Wirklichkeit das ist, was mit machtvoller Vehemenz als wirklich dargestellt wird?
Ein Beispiel für hergestellte, also konstruierte Wirklichkeiten ist die demoskopisch-mediale Rede über Politik in Wahlkampfzeiten. Die Deutung von Politik als Kopf an Kopf-Rennen, wie sie sich zunehmend bei Medien und in der Meinungsforschung größter Beliebtheit erfreut, ist ein besonders deutliches Beispiel für die Inszenierung von Wirklichkeit. Interessant in diesem Zusammenhang der Herstellung durch Interpretation sind dabei sowohl die direkten Effekte auf der Seite der Wählerinnen und der Wähler, die indirekten Konsequenzen im Hinblick auf Veränderungen in den politischen Strukturen und der Strategien der politischen Parteien, als auch die Prozesse und Akteure, wie und durch wen also diese Wirklichkeit hergestellt wird.
"Wahlergebnisse sind eben doch etwas anderes als Wahlumfragen." schrieb Conrad Seidl noch am Tag nach der Aufsehen erregenden Nationalratswahl 2002 und sah wohl die Meinungsforscher als die Verlierer in der Wahlauseinandersetzung. Wolfgang Bachmayer, OGM-Chef und Zulieferer der wöchentlichen "Prognosen" für Format, wusste dies zu erklären: Es habe sich bereits ein drei- bis vierprozentiger Vorsprung für die ÖVP abgezeichnet, eine Partei zum Sieger zu erklären, wäre aber ein Eingriff in den Wahlkampf.
"Bachmayers Position ist der Gipfel des Zynismus," so Gilg Seeber. "Jede Veröffentlichung von Meinungsforschungsergebnissen stellt nicht nur eine Diagnose der öffentlichen Meinung dar, sie gestaltet diese auch. Im Nationalratswahlkampf 2002 stützten vier Printmedien ihre Berichterstattung sehr wesentlich auf demoskopische Befunde und alle vier waren sich da in einig, dass es sich um einen spannenden Wettkampf handle, ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Kanzlerpartei ÖVP und bislang stärkste Partei SPÖ, aber auch zwischen den Grünen und den implodierten FPÖ und damit auch zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien. Dass dem nicht so war, zeigt die statistische Analyse der veröffentlichten Daten: Zu keinem Zeitpunkt das Wahlkampfes war "Kopf-an-Kopf" das wahrscheinlichere Szenario."
Die in sportlichen Metaphern medial produzierte Wirklichkeit bleibt für die Politik nicht ohne Konsequenzen: Die Parteien ersparen sich die Auseinandersetzung um Themen und Regierungsbilanz, mit der Entthematisierung wird die Personalisierung der Kampagne erleichtert. Somit treffen sich Interessen der Parteien mit denen von kostengünstig produzierenden Medien: Eine Diskurskoalition ist geschaffen, die den Rahmen für das Handeln der politischen Akteure setzt.
Sieglinde Rosenberger, Gilg Seeber: Kopf an Kopf - Meinungsforschung im Medienwahlkampf. Wien: Czernin Verlag 2003, ISBN: 3-7076-0162-5
Sieglinde Rosenberger ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien und derzeit Joseph A. Schumpeter Fellow am Center for European Studies an der Harvard University; Gilg Seeber ist ao.Professor und Vorstand des Instituts für Statistik an der Universität Innsbruck.