Die Bibel
Den meisten wird dabei mehr noch als der Text des Lukasevangeliums selbst (Lk 2,1-7) dessen ikonographische Darstellung vor Augen sein, die seit dem Mittelalter die Motivik beherrscht und die an die weiten Möglichkeiten der innerbiblischen Bezüge und die Kreativität der Auslegungsgeschichte erinnert. So resultiert konkret die Darstellung der textfremden Gestalten von Ochs und Esel aus einer kühnen und nicht ganz unpolemischen Kombination eines Prophetentextes mit dieser Geburtsgeschichte des Messias, den – so die Botschaft der Konstellation - jene nicht als solchen erkennen können, die nicht einmal über die Weisheit dieser Tiere verfügen (Jes 1,3: „Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn; Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht”; vgl. Ijob 35,10-11: „Doch keiner fragt: Wo ist Gott, mein Schöpfer, der Loblieder schenkt bei Nacht, der uns mehr lehrt als die Tiere der Erde und uns weiser macht als die Vögel des Himmels?”).
Der Blick in die Vor- und Nachgeschichte einzelner biblischer Texte bzw. Geschichten durchforscht die weite Dimension der mehr oder weniger geglückten Möglichkeiten, die biblischen Texte zu verstehen und mit ihnen zu leben. Ein differenzierterer Blick auf die ‚Bibel’ als Ganzes gibt einen Einblick in die vielen unterschiedlichen Entwürfe von ‚Bibeln’, wie die verschiedene Religionen und Konfessionen sie im Verlauf ihrer Geschichte gestaltet haben.
Bekannt ist ja, dass die Bibel nicht aus einem einzigen Buch, sondern einer Vielzahl sehr unterschiedlicher Schriften besteht, die für sie eher die Bezeichnung ‚Bibliothek’ nahe legt. Doch wer die Geschichte und die heutige Realität noch etwas genauer anschaut, wird gewahr, dass sich in Wirklichkeit unter dem summarischen Begriff ‚Bibel’ eine Vielzahl unterschiedlich reichhaltiger und konzeptionell verschieden aufgebauter Bibliotheken verbirgt, deren Gesichter sich nur teilweise gleichen und die Rede von einer gemeinsamen Bibel beträchtlich relativieren. Eine wenn auch nur summarische Darstellung davon gibt etwa folgendes Bild:
Die umfangmäßige Minimalvariante von ‚Bibel’ findet sich bei den Samaritanern, die nur die fünf Bücher Mose als verschriftlichte Lebensweisung (‚Tora’) anerkennen. Diese Bücher bilden auch bei den Juden das Herzstück und Zentrum ihrer Heiligen Schrift. Dazu zählen sie noch ein ‚Propheten’-Korpus, das die Frühgeschichte und Königszeit sowie die Texte der Propheten enthalten, und als drittes ein ‚Schriften’-Korpus, in dem sich Bücher der weiteren Geschichte Israel, der Psalmen und der ‚Weisheit’ im Ganzen der ‚Hebräischen Bibel’ finden.
Diese ‚Hebräische Bibliothek’ haben dann Juden, die sich in Ägypten und zwar besonders in Alexandrien angesiedelt hatten, im 3.-1. Jh. vor Christus ins Griechische übersetzt und damit eine ‚griechische Bibliothek’ begründet, zu der sie ihre eigenen Bücher hinzufügten und die damit ein gewisses Eigenleben zu entfalten begann. Sie war zur Zeit Jesu in der ganzen griechisch sprechenden Welt - auch in Palästina - verbreitet und bildete in einem schwer rekonstruierbaren und wohl eher fließenden Umfang die ‚Heilige Schrift’ auch der ersten Christen. Dies ist schon daraus erschließbar, dass sie mehr als aus der ‚Hebräischen Bibel’ die Heilige Schrift aus Textformen dieser griechischen Bibliothek zitierten.
Zu dieser ‚griechische Bibliothek’ fügten die ersten Christen ihre eigenen Texte der Evangelien und der Apostelbriefe hinzu, die sie in ihren Gottesdiensten vorlasen und denen sie damit einen ‚kanonischen’ Status zuteilten. Erst im Zug der Abwehr einer neuen griechischen Bibliothek, die gegen Ende des 2. Jh.s der Christ Markion als gnostisch gereinigtes Textkorpus gebildet hatte, teilten die Christen ihre Büchersammlung in zwei Abteilungen: ‚Altes Testament’ und ‚Neues Testament’ und schufen damit eine ‚christliche Bibliothek’. Auch deren Gestalt nahm in der Folgezeit sehr unterschiedliche Formen unter unterschiedlichen kanonischen Vorzeichen an, wie schon ein Blick in die heute gebräuchlichen Textausgaben der ‚Lutherbibel’ und der ‚Einheitsübersetzung’ zeigt.
Alle diese ‚Bibliotheken’ zeugen in ihrer lang anhaltenden Existenz vom Wert der ‚Bibel’. Unabhängig von ihren religiösen oder konfessionell geprägten Lebensformen bringt sie menschliches Leben (und Lieben, siehe Hoheslied) in reflektierter und formschöner Sprache zum Ausdruck. Wenn sie auch keine Antworten auf die Fragen der modernen Wissenschaften geben können, bringen sie doch die allgemeinen Erfahrungen und Probleme wie Freude, Leid, Gewalt, Tod, Schuld, Vergebung und Hoffnung offen und eindringlich zur Sprache. Mit welchen Figuren und welchen Aktionen auf dem Weihnachtsbild sich in dieser Begegnung die Beschauerinnen und Beschauer identifizieren, ist der Entscheidung und Verantwortung der Einzelnen zu überlassen.
Text von Josef M. Oesch