Alpine Landschaft als Projektionsfläche für Wandel
Die Mechanisierung der Landwirtschaft und der Preisdruck auf landwirtschaftliche Erzeugnisse führten ab 1950 zu einer Rationalisierung und Spezialisierung der Betriebe und in Folge zu einer stetigen Abnahme des Anteils der in der Landwirtschaft Beschäftigten in Nord- und Südtirol. Gunstlagen wurden und werden zunehmend intensiver bewirtschaftet, Randlagen vernachlässigt oder aufgelassen, extensiv genutzte Wiesen in intensives Grünland umgewandelt, was nicht ohne Folgen für die alpine Kulturlandschaft bleibt. „Die Veränderungen sind vielfältig und betreffen die Land- und Forstwirtschaft, die Siedlungsentwicklung, den Tourismus, den Verkehr und die Energiegewinnung“, verdeutlicht Priv.-Doz. Erich Tasser von der Europäischen Akademie Bozen (EURAC), der das auf drei Jahre angelegte, länderübergreifende EU-Interreg-IV-Projekt „Kultur.Land.(Wirt)schaft – Strategien für die Kulturlandschaft der Zukunft“ (KuLaWi) leitet. „Eine intakte Landschaft ist nicht nur von ästhetischem Wert, sondern erhöht die Lebensqualität für Einheimische und die Standortattraktivität für den Tourismus. Weiters erbringt sie auch wesentliche ökologische Dienstleistungen für die Gesellschaft“, ergänzt Tasser.
KuLaWi ist nicht nur ein länder-, sondern auch ein fächer- und disziplinenübergreifendes Forschungsvorhaben, das die Verhältnisse in Nord- und Südtirol erforscht und dabei das Lech- und Stubaital in Nordtirol sowie den Vinschgau und das Pustertal in Südtirol exemplarisch untersucht. Die Universität Innsbruck, die am 3. November gemeinsam mit der EURAC, der Landwirtschaftskammer und dem Ländlichen Fortbildungsinstitut (LFI) zu einer Pressekonferenz lud, ist mit dem Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, dem Institut für Ökologie und dem Institut für Soziologie daran beteiligt.
Die am Projekt mitwirkenden Institutionen – neben den Hochschulen und dem LFI sind auch die für Landwirtschaft zuständigen Landesbehörden in Nord- und Südtirol involviert – haben die Wechselbeziehungen zwischen Landschaft und Landwirtschaft in historischer und aktueller Dimension unter die Lupe genommen, um Zukunftsstrategien für Politik, Tourismus und ländliche Betriebe zu entwickeln. Berücksichtigt wurden dabei nicht zuletzt neuere Entwicklungen in der EU-Agrarpolitik sowie das Auslaufen der Milchquotenregelung 2015. „Tirol verdankt seine typische Landschaft vor allem der Landwirtschaft, also der täglichen Arbeit unserer Bäuerinnen und Bauern. Damit unser Land auch in Zukunft landschaftliches und somit touristisches Aushängeschild bleibt, braucht es allem voran eine intakte produzierende Viehwirtschaft“, erklärt Landwirtschaftskammer-Präsident Josef Hechenberger, der die Zielsetzungen des Interreg Projekts begrüßt. „Es freut ganz besonders, dass die vorliegende Universitätsstudie, als Basis für fundierte Zukunftsstrategien dienen soll – zum Wohle unserer intakten Kulturlandschaft im Zusammenhang mit einer gesunden produzierenden Landwirtschaft“, so der LK-Präsident.
Traditionelle Bewirtschaftung gefällt
Eine KuLaWi-Arbeitsgruppe ging in einer groß angelegten Befragung seit dem Sommer 2010 der Frage nach, welche Landschaft sich Einheimische und Touristen wünschen. „Insgesamt haben mehr als 1800 Süd-, Nord- und Osttiroler und über 4300 Touristen unsere Fragebögen ausgefüllt. Damit sind unsere Ergebnisse repräsentativ und sehr stabil“, freut sich die verantwortliche Wissenschaftlerin Univ.-Prof. Ulrike Tappeiner vom Institut für Ökologie. Die Auswertungen zeigen einen klaren Trend: Traditionell bewirtschaftete und bewaldete Flächen werden sehr positiv beurteilt, wogegen Landschaften, die durch eine intensive Landwirtschaft geprägt sind, weniger gefallen. Die Verstädterung des Talbodens bewerten die Befragten eher negativ. Deutliche Unterschiede zeigen sich zwischen den Bewertungen von Einheimischen und Touristen: So stehen Touristen der Siedlungsausbreitung kritischer gegenüber als Einheimische. Umgekehrt gefällt den Einheimischen die Bewaldung meist weniger gut als den Touristen. Auffallend ist zudem, dass vor allem den italienischen Touristen offene Grünflächen bedeutend besser gefallen als den übrigen Befragten.
Weniger landwirtschaftliche Flächen
Lebensstil und Wirtschaftsweise der Menschen wirken auf das Aussehen der Landschaft ein. Dabei stand in der Vergangenheit nicht die Landschaft als solche, sondern die jeweilige Anpassung der Landschaft an die menschlichen Bedürfnisse im Zentrum des Interesses. „Die Landschaft war sozusagen das Nebenprodukt menschlichen Handelns. Blieb sie über einen längeren Zeitraum hinweg unverändert, kann man davon ausgehen, dass es auch keine grundlegenden sozioökonomischen Veränderungen gab. Hat sie sich aber so stark gewandelt wie in den letzten 150 Jahren, ist das ein Indikator dafür, dass sich das Leben und Wirtschaften der Menschen dramatisch verändert hat“, erklärt Dr. Gerhard Siegl vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Genau an diesem Punkt setzt die zweite KuLaWi-Arbeitsgruppe an. Sie erfasst unter anderem die wirtschafts- und sozialhistorischen Aspekte des Wandels, der sich in der Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten ebenso niederschlägt wie in der Flächenverantwortung. „In den untersuchten Gemeinden im Lechtal werden heute nur mehr 12 Prozent der ehemaligen Landwirtschaftsflächen genutzt. Der Wald erobert sich dort große Teile der Fläche zurück“, führt Siegl ein Beispiel an.
Unterschiedliche Wahrnehmung
Die Wahrnehmung der Kulturlandschaft durch Bäuerinnen und Bauern sowie die Sichtweise von Experten aus Tourismus und Politik standen im Mittelpunkt der soziologischen Arbeitsgruppe, die unter der Leitung von ao. Univ.-Prof. Markus Schermer Gruppendiskussionen und Interviews durchführte. Dabei wurden unterschiedliche Wahrnehmungen der Kulturlandschaft sichtbar: Besondern in Tourismusregionen zählten Bäuerinnen und Bauern auch „moderne Elemente“ (wie z.B. Siloballen oder Liftstützen) und selbst die Gletscherregion zur Kulturlandschaft, während in anderen Regionen stärker „traditionelle“ Elemente einer „vergangenen“ Landschaft (wie z.B. Heuschober) genannt wurden. Während ein Wandel der Kulturlandschaft aus wirtschaftlichen Gründen akzeptiert wird, wird eine zu intensive Nutzung ebenso negativ bewertet wie das Brachfallen der Landschaft. „Als größtes Problem für die Landschaftspflege wird gesehen, dass aufgrund der Mechanisierung und des Nebenerwerbs immer weniger Arbeitskräfte für die oft mit Handarbeit verbundenen Tätigkeiten zur Verfügung stehen“, berichtet Schermer ein Ergebnis der Diskussionen mit Landwirten. Mit den Erkenntnissen aus Experten-Interviews und den Ergebnissen der anderen Arbeitsbereiche werden daraus Szenarien als Basis für die Diskussion von Steuerungsmaßnahmen erarbeitet.
Bewusstseinsbildung für Jugendliche
Eine weitere Arbeitsgruppe hat unter der Expertise des Ländlichen Fortbildungsinstituts Tirol (LFI) einen aus vier Modulen bestehenden Lernkoffer für den Einsatz im Schulunterricht entwickelt. Mit dessen Hilfe sollen die Schüler/innen mit auf eine Reise durch die alpine Landschaft und ihre Entwicklung genommen werden. „Wir möchten ihnen zeigen, wie und weshalb eine Landschaft sich verändern kann. Wir möchten sie animieren, sich kritisch mit den Folgen unseres Handelns für die Landschaft zu beschäftigen“, erläutert Dipl.-Ing. Franz Schweiger vom LFI.
Die didaktischen Unterlagen mit dem Titel „Landschaft aus dem Koffer“ sind durch einen starken Lokalbezug gekennzeichnet. Die Aufgaben und Übungen beziehen sich auf anschauliche Beispiele aus Tirol und Südtirol. „So möchten wir eine aktive, handlungsorientierte und zugleich kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Landschaft in Gang setzen und die Thematik für Jugendliche begreifbar machen“, beschreibt Schweiger das Ziel des innovativen Projektteils. Der Lernkoffer ist so gestaltet, dass er fächerübergreifend für einen Projekttag, einen Vormittag oder auch nur für zwei Unterrichtsstunden eingesetzt werden kann und ist ab sofort verfügbar.