Die Welt vor 200 Jahren

Wie hat ein Bauer um 1815 die Welt gesehen, was wusste er? Ein Innsbrucker Historiker arbeitet diese Fragen in seiner Dissertation anhand einer einzigartigen Quelleauf: Ein Waidringer Bauer hat vor knapp 200 Jahren ein Buch fertiggestellt, das seinesgleichen sucht. Darin beschreibt er die Welt, wie er sie kennt – und bietet damit wertvolle Einblicke in seine Zeit.
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„Die Zeit, gut vertreib“ in großen roten Lettern: Im Vorwort erklärt Leonhard Millinger, warum er die Weltbeschreibung verfasst hat. (Bild: Peter Andorfer)

„Die Zeit, gut vertreib“: So beginnt der Bauer Leonhard Millinger seine über 1000 Seiten lange Weltbeschreibung. Der Bauer aus Waidring im Bezirk Kitzbühel lebte während der Koalitionskriege und hat das Werk bereits 1815 abgeschlossen. Im Buch erklärt er die Welt, wie er sie kennt – „zu Nutzen deß Leser“, wie er schreibt. Faszinierend ist die Weltbeschreibung deshalb, weil nur wenige Schriftstücke von Bauern aus dieser Zeit bestehen – und wenn, dann typisch bäuerliche Zeugnisse, etwa Arbeitszeugnisse oder für die Arbeit relevante Auflistungen und Statistiken. Allein die Tatsache, dass er als Bauer nicht nur lesen und schreiben konnte, sondern auch in der Lage war, ein so langes Werk zu verfassen, macht Leonhard Millinger bemerkenswert. Der Waidringer war zudem als Viertelschreiber – vergleichbar mit einem Protokollanten in Notariatssachen – auch aktiv in das gesellschaftliche Leben in seiner Umgebung eingebunden. Während der Franzosenkriege übte er außerdem die Funktion eines Kompanieschreibers aus.

Dissertationsprojekt

In seiner Dissertation widmet sich nun der Historiker Peter Andorfer Millingers Weltbeschreibung. Was Leonhard Millingers Arbeit neben der Tatsache, dass ein längeres Werk eines Bauern aus der Neuzeit ohnehin schon eine Rarität an sich ist, besonders macht, ist auch seine Arbeitsweise: Er hat für seine Weltbeschreibung 19 Bücher verwendet, die er als Quellen dafür auch immer wieder zitiert. „Allein, dass er diese 19 Bücher besitzt, ist außergewöhnlich für einen Bauern aus dieser Zeit“, erklärt Peter Andorfer. 18 der 19 Bücher hat der Doktorand für seine Arbeit bereits genau identifiziert – das auch deshalb, weil Millinger seine Quellen fast schon wissenschaftlich genau angibt. „Die Bücher stammen zum Teil aus der Barockzeit, es sind aber auch zu Millingers Zeit sehr neue Bücher darunter.“

Der Historiker hat zur Vorbereitung seiner Dissertation bereits die gesamte, im handschriftlichen Original über 1000 Seiten lange Weltbeschreibung transkribiert. „Leonhard Millinger verfolgte sein Ziel, die gesamte Welt zu erfassen, sehr strukturiert: Er verbindet selbst Erlebtes mit aus Büchern oder Erzählungen Erfahrenem und er geht dabei wie in einem Lexikon weitgehend alphabetisch vor.“ Millingers Werk gilt außerdem als eine der wichtigsten Primärquellen zu den Geschehnissen im Tiroler Unterland während der Koalitionskriege und besonders während der Kämpfe 1809. Der Waidringer war selbst an Kriegshandlungen beteiligt und beschreibt auch den Durchzug der französisch-bayrischen Truppen durch das Unterland in Richtung Innsbruck. „Millinger behält das ganze Buch hindurch einen sehr sachlich-nüchternen und beschreibenden Stil bei“, erklärt Peter Andorfer. Die Passagen zu den Franzosenkriegen zeigen aber auch eines deutlich: Die Tiroler Bevölkerung befürwortete keineswegs geschlossen die Erhebung gegen seinen Regenten, Kritik am Aufstand durfte jedoch nicht öffentlich geäußert werden. „Er beschreibt die Stimmung in der Bevölkerung wörtlich mit der eines ‚Elixiers’, das die Tiroler zu sich genommen hätten, und das sie so euphorisch mache.“

Religion als Ausgangsbasis

Die Weltbeschreibung selbst beginnt Millinger nach einem Vorwort alphabetisch mit „Aller Anfang“: Die Schöpfung der Welt durch Gott, gefolgt von einer Zusammenfassung der Bibel. „Leonhard Millinger war zutiefst religiös, das drückt sich an mehreren Stellen in seinem Werk aus“, sagt Peter Andorfer. So widmet er der Religion sehr große Teile seines Werks und inkludiert auch eine genaue Beschreibung der „Ketzereyen“ (Rechtschreibung wie im Original): „Es gibt nebst den katolischen Glauben, vielfache Ketzerey und Irrglauben in der Welt, wie zu vernemmen.“ Das Original von Leonhard Millingers Weltbeschreibung aus 1815 ist heute im „Metzgerhaus“, dem Heimatmuseum der Gemeinde Kirchdorf in Tirol, ausgestellt. Eine ältere Version des Buches aus 1790 gilt derzeit als verschollen.

Dieser Artikel ist in der aktuellen Ausgabe des Magazins „wissenswert“ vom 11. Oktober 2011 erschienen. „wissenswert“ ist ein Kooperationsprojekt zwischen der Uni Innsbruck und der Tiroler Tageszeitung und liegt dieser fünf Mal pro Jahr bei. Eine digitale Version steht unter folgendem Link zur Verfügung: wissenswert online (pdf)