Jedes Bauprojekt ist auch ein Sozialprojekt

Walter Purrer stellt den Menschen in den Mittelpunkt seiner Forschung, ist aber kein Anthropologe, sondern ein Bauingenieur, der festgefahrene Systemedekonstruiert. Als Professor für Baubetrieb, Bauwirtschaft und Baumanagement und erfahrener Praktiker, spricht er im Interview über seine Forschungsgruppe und nötige Veränderungen in der Baubranche.
Baustelle
Für Walter Purrer ist jedes Bauprojekt auch ein Sozialprojekt. (Symbolbild: futureimagebank.com)

Die 2010 von Ihnen gegründete Arbeitsgruppe geht über die Grenzen der Bauingenieurwissenschaften hinaus. Warum dieses Wagnis?

Weil es für die Praxis relevant ist. Bauen hat bei Weitem nicht nur mit Technik zu tun. Ein Bauprojekt, in dem hunderte Menschen zusammenarbeiten, ist auch ein Sozialprojekt. Nicht nur die Bauabwicklung, sondern auch die spätere Nutzung des Gebauten beinhaltet sehr viele soziale Aspekte. Ich glaube daher, dass es wichtig ist, die Technik mit anderen Wissenschaftszweigen wie Sozialwissenschaften, Psychologie, Biologie, Physik, Anthropologie oder Managementwissenschaften zu kombinieren, auch wenn das für viele Bauingenieure ungewohntes Terrain ist. Es geht überhaupt nicht darum, dass wir bessere Soziologen oder Physiker werden, sondern darum, das Wissen anderer Fachbereiche für die Bauwirtschaft nutzbar zu machen.

Sie haben selbst an zahlreichen internationalen Bauprojekten in leitender Funktion mitgewirkt. Welche Probleme nehmen Sie von der Praxis in die Theorie mit?

In einem Bauprojekt treffen die unterschiedlichsten Interesse aufeinander, zum Beispiel von Auftraggeber und Auftragnehmer. Eine Beobachtung ist, dass es immer schwieriger wird, gemeinsame Lösungen zu finden, weil jeder sich auf seine eigenen Interessen konzentriert. Bauvorhaben sind meist mehr von Kampf als von Kooperation geprägt, es bräuchte aber beides im ausgewogenen Zusammenspiel. Da kommt auch bereits der Berührungspunkt mit den Sozialwissenschaften ins Spiel: Die Spieltheorie kennt das Gefangenendilemma, eine Entscheidungssituation, in der zwei Spieler bei Kooperation – keiner verrät den anderen – eine geringe Haftstrafe erwartet, jedoch die eigene Haftstrafe auf Kosten des jeweils anderen verringert werden kann, wenn Verrat gewählt wird, während der andere kooperiert – denjenigen, der schweigt, erwartet eine hohe Haftstrafe. Das Unwissen, welche Strategie der andere wählt, führt oft zu beidseitigem Verrat, mit der Konsequenz, dass beide im Vergleich zur gemeinsamen Strategie des Schweigens die „Verlierer“ sind. Das Spiel zeigt, dass Kooperation erschwert wird, wenn jeder nur im eigenen Interesse agiert. Solche und andere Situationen, in denen rein rationales Denken suboptimale Ergebnisse bringt, kann man auch in der Bauwirtschaft erkennen. Für Bauingenieure ist diese Erkenntnis oft ein Aha-Erlebnis.
Darüber hinaus sieht man häufig, dass Fähigkeiten, die in technischen Ausbildungen als „Softskills“ irgendwie nebenher laufen und als nebensächlich erachtet werden, in der Praxis zu „Hardfacts“ werden, die enorme Auswirkungen – auch materieller Natur – haben.

Ihre Gruppe wählt einen kybernetisch-systemtheoretischen Ansatz, um den Faktor Mensch in der Bauwirtschaft zu erforschen. Wodurch charakterisiert sich dieser?

Die Kybernetik ermöglicht es, Projekte als lebende Organismen zu betrachten und bleibt nicht nur auf die rein rational fassbaren Faktoren beschränkt Die Organisation einer Baustelle funktioniert nicht wie eine Baumaschine, auch wenn Bauingenieure oft die Tendenz haben, sie so zu betrachten. Ich habe da ein Beispiel: Wenn durch ein Ventil Hydraulikflüssigkeit mit großem Druck in einen Kolben hineingepresst wird, bewegt sich der Kolben in eine genau definierte Richtung. Je höher der Druck, desto größer die Kraft. So funktioniert eine Baumaschine; sie kann kompliziert sein, aber ihr Verhalten ist durch Betrachtung der Einzelkomponenten genau vorhersehbar. Wenn ich hingegen zwei kooperierende Personen habe, und die eine macht der anderen Druck, dann ist überhaupt nicht definiert, wie der Partner reagiert. Es kann sein, dass er dem Druck ausweicht, es kann aber auch sein, dass er einen Gegendruck ausübt. Die Bauwirtschaft ist systemtheoretisch daher viel eher einem natürlich gewachsenen, lebendigen System vergleichbar als einer Maschine.
Eine weitere Qualität der Kybernetik ist, dass sie mit Rückkoppelungsschleifen umgehen kann. Das hilft zum Beispiel, wenn man den Einfluss von Vertrauen in einem Projekt betrachten will. Nehmen wir an, es besteht Vertrauen zwischen den Projektpartnern. Setzt man weitere vertrauensbildenden Maßnahmen, stärken diese das Vertrauen und es kommt wieder mehr Vertrauen zurück. Die Kybernetik kann solche Dynamiken transparent machen und aufzeigen, ob sich eine Situation in gewünschtem oder ungewünschtem Sinn aufschaukelt.

Wie kann man sich die konkrete Verwirklichung dieser Ansätze vorstellen?

Unsere Forschungsgruppe ist sehr heterogen und interdisziplinär zusammengesetzt. Die Mitglieder sind in den unterschiedlichsten Funktionen in der Bauwirtschaft, der Lehre und der Forschung tätig. Alle sind dazu aufgerufen, in ihrem normalen Tätigkeitsfeld, einige Visionen und Ziele der Forschungsgruppe umzusetzen. Sie wählen einen Ansatz, von dem sie glauben, dass er für ihr Projekt eine Verbesserung bringt. Die Erfahrungen werden dann mit der Forschungsgruppe geteilt und diskutiert und schließlich auch in die Öffentlichkeit getragen. Wir haben bereits eine Reihe von Projekten, in denen unsere Ideen umgesetzt werden.

Was würden Sie persönlich ganz anders machen, wenn Sie ein Projekt nach Ihren Vorstellungen abwickeln würden?

Im Sinne der Visionen und Ziele unserer Forschungsgruppe würde ich die Aktivitäten der Bauwirtschaft nach den Bedürfnissen der Menschen ausrichten. Auf jeden Fall aber gäbe es mehr Platz für Emotionen und für Spiritualität.

Zur Person

Walter Purrer, geboren 1956 in Graz, studierte Bauingenieurwesen mit Vertiefung in den Bereichen Bodenmechanik, Felsmechanik und Grundbau an der TU Graz. 1983 promovierte er zum Doktor der Montanwissenschaften in Leoben. Im Anschluss arbeitete er über viele Jahre hinweg in leitenden Funktionen an zahlreichen internationalen Großbauprojekten mit, u.a. als technischer Projektleiter bei der Errichtung des Kanal-Tunnels. Seit 2002 ist Purrer staatlich befugter und beeideter Ingenieurkonsulent für Bauingenieurwesen, Spezialgebiet bauwirtschaftliche und bauvertragliche Beratung. Im September 2008 folgte er dem Ruf an die Universität Innsbruck.

 

Das Interview mit Walter Purrer ist in der aktuellen Ausgabe von "wissenswert" erschienen. Das Magazin liegt der Tiroler Tageszeitung bei und kann online nachgelesen werden: wissenswert Nr. 16, Oktober 2011