Büstenhalter aus dem Mittelalter
Einen aufsehenerregenden Fund haben Innsbrucker Archäologen in Schloss Lengberg bei Nikolsdorf in Osttirol gemacht: Im Zuge umfangreicher Umbaumaßnahmen, die von den Archäologen unter der Leitung von Harald Stadler vom Institut für Archäologien begleitet wurden, stießen die Forscherinnen und Forscher auf über 2.700 textile Fragmente aus dem 15. Jahrhundert. „Die Textilien wurden gemeinsam mit anderen Objekten, meist aus organischem Material, wie Schuhe aus Leder, als Füllmaterial verwendet“, erklärt Mag. Beatrix Nutz, die die Textilien im Rahmen ihrer Dissertation bearbeitet. „Schriftliche Quellen lassen uns annehmen, dass das meiste Füllmaterial im Zuge einer Aufstockung zur dreigeschossigen Anlage zur Niveauangleichung des Bodens in die Gewölbezwickel gebracht wurde.“ Das Besondere an dem Fund: Vier leinene Textilien ähneln modernen BHs – bisher wurde angenommen, BHs seien eine Erfindung der Neuzeit.
Unterschiedliche Textilien
Insgesamt besteht der Fund aus über 2.700 einzelnen Stoff-Fragmenten. Eine erste Durchsicht des Materials ergab eine Fülle unterschiedlicher Textilformen, darunter eine Reihe fast vollständig erhaltener Kleidungsstücke sowie Fragmente leinener Innenfutter mit spärlichen Resten der ehemaligen Wollkleider, außerdem Fragmente mehrerer Leinenhemden mit starker Fältelung an Kragen und Ärmel mit erhaltenen Textilknöpfen und zugehörigen Knopflöchern, deren Größe nahelegen, dass sie Bestandteil weiblicher Kleidung waren oder gar von Kindern getragen wurden. Auch Männerkleidung wurde gefunden: „Eine vollständig erhaltene leinene Unterhose, das Fragment einer zweiten und ein Textilfragment aus roter und blauer Wolle, das sich als Hosenlatz herausstellte, wurden von Männern getragen“, erklärt Beatrix Nutz.
Insgesamt wurden vier Textilien aus Leinen gefunden, die modernen BHs ähneln. „Zwei stärker fragmentierte Exemplare scheinen eine Kombination aus einem BH und einem kurzen Hemd zu sein. Sie enden direkt unter der Brust, haben aber zusätzliche Stoffteile oberhalb der Körbchen zum Verdecken des Dekolletés und keine Ärmel“, erklärt Beatrix Nutz. Die beiden weiteren gefundenen „BHs“ ähneln modernen BHs noch stärker: „Der dritte ‚BH’ sieht mit zwei breiten Trägern und einem nicht erhaltenen Rückenteil modernen BHs viel ähnlicher. Dieser ist auch der am aufwändigsten dekorierte“, sagt die Archäologin. Der vierte „BH“ ähnelt einem modernen Büstenhalter am meisten. „Er ist eine Kombination aus einem BH und einem Mieder und kann am ehesten mit einem modernen Longline-BH verglichen werden.“
Erfindung im 15. Jahrhundert?
Eine eigens durchgeführte Kohlenstoff-14-Datierung an Faserproben zweier BHs haben die Datierung der Stücke ins 15. Jahrhundert bestätigt. Bisher gab es keine Beweise für die Existenz von BHs mit deutlich sichtbaren Körbchen vor dem 19. Jahrhundert. „Mittelalterliche schriftliche Quellen äußern sich eher vage über das Thema, manchmal werden ‚Taschen für die Brüste’ oder ‚Hemden mit Säcken’ erwähnt“, erklärt Beatrix Nutz. „Andere Quellen erwähnen nur Brustbänder, um übergroße Brüste an den Körper zu binden.“ Als „Erfinder“ des Büstenhalters gelten heute unter anderem Herminie Cadolle im späten 18. Jahrhundert, und Mary Phelps Jacob, die 1914 ein US-Patent erhielt. „Mit Ausnahme des ‚Longline-BHs’ mit einer eher kleinen Körbchengröße weisen die drei anderen gefundenen ‚BHs’ sehr große Körbchen auf, was zur Aussage mancher Schriftquellen über ‚Säcke’ in Kleidern und Hemden passt“, sagt die Archäologin. Als gesichert gilt: Der Fund ist bislang einzigartig und liefert eine wichtige Ergänzung zur Textilgeschichte.