Erzähl mir von der Liebe
Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Faust und Gretchen, Orpheus und Eurydike, Rhett und Scarlett – die Kulturgeschichte strotzt vor Liebesgeschichten, die zwischen Romantik, Leidenschaft, Verzweiflung und Tod changieren. Doch findet die romantische Liebe in unserer gegenwärtigen, postmodernen Kultur einen Platz? Haben Liebesbeziehungen in dem immer komplexer werdenden kapitalistischen System mit seiner schnelllebigen Zeit weiterhin Bestand? Prof. Timo Heimerdinger, Europäischer Ethnologe vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck, sagt ja. Den Ausgangspunkt seiner These bilden die Ergebnisse zweier mit Studierenden durchgeführten Interviewprojekte an den Universitäten Mainz und Innsbruck in den Jahren 2006 und 2010/11. Die Aufgabe der Studierenden bestand darin, Paare getrennt voneinander danach zu befragen, wie ihre Liebe begann. Die Palette der insgesamt 25 befragten Paare reichte dabei von alten, jungen, heterosexuellen und homosexuellen Paaren, von Ehepaaren, die seit dreißig Jahren verheiratet sind, über frischverliebte Paare bis hin zu Paaren, die bereits seit einigen Jahren zusammen sind. „Die Fragestellung, die an die Frauen und Männer gerichtet wurde, war ganz schlicht: Wie kam es eigentlich dazu, dass ihr ein Paar geworden seid? Danach sollten die Paare erzählen, wie ihre gemeinsame Geschichte begann“, erklärt Heimerdinger. Ergänzend fügt er hinzu, dass „es klar ist, dass die Antworten keine Dokumentationen des Anfangs sind. Es sind Geschichten über den Anfang. Das heißt, die Frage, die wir stellen, ist nicht, wie Liebe anfängt, sondern, wie erzählt wird, dass Liebe beginnt. Das ist der entscheidende Punkt.“
Am Anfang war das Wort, nein die Liebe
Wie beginnt eine Liebesgeschichte? Woher kommt die Liebe und was passiert zwischen dem ersten Blick und bis dass der Tod uns scheidet, zwischen der Begegnung von zwei Unbekannten und deren Transformation zu Seelenverwandten? Die Liebe begegnet uns in unterschiedlichen Formen. Sie kann langsam und erwartet, aber auch ganz plötzlich und leidenschaftlich beginnen. Die römische Mythologie erklärt uns den Beginn einer Liebe mit der fiktiven Gestalt eines halbwüchsigen Knaben, gerüstet mit Pfeil und Bogen. Die Rede ist von Amor, dem Gott der Liebe, der vermeintlich als Symbol der Liebe gilt. Er trifft mit seinen Pfeilen direkt ins Herz der Menschen und erweckt damit die Liebe. Etwas von dem Mysteriösen und Rätselhaften der Liebe findet sich auch in den Erzählungen der interviewten Paare wieder. „Über den Anfang der Liebe zu sprechen, das ist ein heikles und schwieriges Unterfangen. Was damals wirklich war, bleibt ein Geheimnis der beiden Liebenden, was man indes bekommt, sind Erzählungen darüber und da zeigt sich, dass in diesen Erzählungen bestimmte narrative Muster, also bestimmte Formen des Erzählens, enthalten sind“, so Heimerdinger. Diese Muster orientieren sich, bei aller Unterschiedlichkeit der einzelnen Liebesgeschichten, ganz markant am romantischen Muster der Liebe. Die Paare sprachen in ihren Erzählungen etwa von einer frühen Ahnung, von Liebe auf den ersten Blick, dem Gleichklang zweier Seelen oder Schicksal. „Dieses Schlüsselereignis, dieses aus dem Nichts auftauchende Harmonieerlebnis, dieses blinde und wortlose Verstehen, ist dabei ganz zentral. Es ist vor allem in der Art und Weise, wie in unserer gegenwärtigen Kultur über Liebe erzählt wird, essentiell, dass Momente wie diese auftauchen“, erläutert Heimerdinger und schildert ferner, dass „es die Vermutung gibt, die romantische Liebe habe heute vielleicht keinen Platz mehr, weil wir in einer von Ironie und Entromantisierung geprägten Zeit leben, die alle historischen Kulturmuster aufgelöst hat oder nicht mehr ernst nimmt. Daher ist es interessant, in solchen Geschichten diese doch offensichtlich sehr haltbaren Muster der romantischen Liebe wiederzufinden.“
Die narrative Liebe
Der Soziologe Niklas Luhmann spricht von der Liebe nicht als Gefühl, sondern als Kommunikationsmedium. Ihn interessierte nicht die schwer zu beantwortende Frage, was Liebe tatsächlich ist, sondern nur, wie wir sie kommunizieren. Liebe ist auch eine Form, um in Beziehungswirklichkeit zu sprechen, eine kommunikative Vereinbarung. „Hier geht es um Erzählung, weniger um die Realität.“ Die Erzählung ist vielmehr selbst die Realität, die Heimerdinger untersucht. Den Anfang der Liebe, oder besser gesagt, den Anfang bestehender Liebesbeziehungen kann man nicht direkt erforschen, da er sich dem methodischen Zugang entzieht. „Die Liebesbeziehung muss aber irgendwann einmal angefangen haben. Wenn wir mit den Menschen darüber sprechen, existiert ‚der Anfang’ selbst immer nur als narrative Verarbeitung desselben, als erzählter Anfang“, expliziert Heimerdinger. Objektiv kann man den Anfang nicht bestimmen, aber die Interviewpartner selbst markieren ihn. Es ist demnach der erste Blick, die erste zärtliche Berührung, die erste gemeinsame Nacht. Momente, in denen es zu Intimität und Zärtlichkeit kommt, werden dabei meist zum Entstehungspunkt der Liebe. Es ging Heimerdinger in der wissenschaftlichen Untersuchung also darum, herauszufinden, wie der Anfang der Liebe erzählt und erinnert wird. „Es ist der Blick zurück. Dieser Blick ist ein überformter, gestalteter Blick. Das bedeutet nicht, dass es falsch ist, was die Menschen erzählen. Die Kategorien von wahr und falsch führen hier nicht weiter. Die Erzählung ist eine eigene Realität für sich, die als Erzählung wahr ist. Es handelt sich dabei um eine narrative Wirklichkeit und die ist für mich als Kulturwissenschaftler interessant.“ Die Tatsache, dass die Geschichten der beginnenden Liebe ganz stark bestimmten Mustern folgen, macht evident, wie relevant dieses romantische Liebesideal in unserer Kultur aller Skepsis zum Trotz weiterhin ist. Für Heimerdinger ist ganz klar, die romantische Liebe lebt in unseren Erzählungen.
Dieser Artikel ist in der Dezember-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version steht unter folgendem Link zur Verfügung: wissenswert 5/2011