Migrationsland Österreich

Vor genau fünfzig Jahren hat Österreich begonnen, Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte abzuschließen. Die Geschichte dieser Migration wird nun erstmalsaufgearbeitet: In zwei Projekten arbeiten Innsbrucker Zeithistoriker die Arbeitsmigration nach Tirol und Österreich ab den 1960-ern auf. Im Rahmen von „Sparkling Science“ forschen auch Schüler mit.
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Gießerei Haslinger in Hall im Juli 1978: Eine Frau entfernt Schlacken und Schmutz vom flüssigen Eisen. (Foto: Walter Jud/Stadtarchiv Hall i. T.: Bildarchiv 8/16-5)

Heuer jährt sich das erste Anwerbeabkommen Österreichs mit einem anderen Staat zum fünfzigsten Mal. Dieses offizielle Abkommen mit Spanien sollte Arbeitskräfte nach Österreich holen, um die boomende Wirtschaft am Laufen zu halten; Verträge mit der Türkei und dem damaligen Jugoslawien folgten 1964 und 1966. Genauer historisch aufgearbeitet ist diese Phase der österreichischen Zeitgeschichte bisher nicht. In zwei thematisch verwandten Projekten hat der Zeithistoriker Priv.-Doz. Dirk Rupnow nun genau das vor: „Migration, ihre Folgen und die Veränderungen, die sie auslöst, gehören für die gegenwärtige Generation zu den entscheidenden gesellschaftspolitischen Themen und sicher mit zu den wichtigsten Entwicklungen in der Nachkriegszeit überhaupt. Darum ist es auch an der Zeit, die Arbeitsmigration ab den 1960-er Jahren historisch zu erforschen.“ Im ersten Projekt werden Dirk Rupnow und sein Team mit insgesamt drei Schulen in Rum und Hall zusammenarbeiten. „Hall und Rum haben wir unter anderem deshalb gewählt, weil wir damit zeigen können und wollen, dass Migration nicht nur die großen Hauptstadtregionen betroffen hat und betrifft: Nicht nur nach Wien kamen Menschen, auch nach Tirol, und nicht nur nach Innsbruck, sondern auch in viele andere Orte im Bundesland“, erklärt Dirk Rupnow. Möglich ist diese Kooperation von Uni und Schulen im Rahmen des „Sparkling Science“-Programms des Wissenschaftsministeriums, mit dem derartige Projekte gefördert werden.

Schule und Wissenschaft

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen dabei gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern auf Spurensuche in ihren Heimat- und Schulorten: Etwa in Archiven, in migrantischen Vereinen, aber auch in Firmen und in den einzelnen Familien. „Ganz wichtig sind dabei die Perspektiven und Stimmen von Migrantinnen und Migranten. Sie einzubinden ist eine notwendige Form der Anerkennung“, sagt Projektleiter Rupnow. In insgesamt acht Workshops lernen die Schülerinnen und Schüler die Arbeitsweise von Historikern kennen, erhalten Hintergrundwissen zur Migrationsgeschichte in Hall und bekommen in weiterer Folge außerdem die Möglichkeit, ihre eigenen Forschungsergebnisse zu präsentieren. Am Ende des Projekts 2014 soll eine mobile Ausstellung zur Geschichte der Arbeitsmigration in Hall stehen. „Die Ausstellung soll in einem Originalbus, mit dem die ‚Gastarbeiter’ in den 1980-ern auf Heimaturlaub nach Jugoslawien gefahren sind, eingerichtet werden. Der Bus ist damit Ausstellungsstück und Ausstellungsort zugleich und ermöglicht außerdem, die Ergebnisse an unterschiedlichen Orten zu zeigen“, erläutert Dirk Rupnow. Bei der Konzeption der Ausstellung sind das Gemeindemuseum Absam und das Stadtmuseum Hall als enge Projektpartner beteiligt, deren Experten stehen den Schülern mit ihrer Erfahrung zur Seite. Die Ausstellung soll langfristig im neugestalteten Haller Stadtmuseum ein dauerhaftes Zuhause finden.

Migration in Österreich

Das zweite, vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierte Projekt hebt die Spurensuche auf die gesamtösterreichische Ebene. Die Innsbrucker Forscherinnen und Forscher werden auch hier vor allem in Archiven recherchieren, aber auch jenseits davon nach Spuren suchen und Erlebnisse von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aufarbeiten. Auch die Herkunftsländer der ersten Arbeitsmigrantinnen und -migranten stehen hier im Fokus, insbesondere die Länder Ex-Jugoslawiens und die Türkei: „Welche Auswirkungen hatte die Migration auf die Herkunftsländer? Dieser Aspekt interessiert uns sehr“, hält Rupnow fest. Die Forscherinnen und Forscher beschäftigt dabei auch die Frage, wie Migration, die grenzüberschreitend ist, in eine immer noch weitgehend national geprägte Geschichtsschreibung eingearbeitet werden kann: „Hier sehen wir auch eine Neu-Verknüpfung von Geschichten, weg von nationaler Einzelgeschichtsschreibung, die transnationale Phänomene wie Migration häufig ausblendet. Teilweise verknüpfen sich durch Migration Regionen unterschiedlicher Länder miteinander und teilen eine gemeinsame Geschichte.“ Ein weiterer Punkt, der sowohl das „Sparkling Science“-Projekt als auch das FWF-Projekt betrifft: Das Thema soll keineswegs auf den Aspekt der Arbeit reduziert werden, auch wenn der grundlegend zum Verständnis dieser Geschichte ist. „Unser Ziel ist, möglichst viel über die Lebenswelten der Migrantinnen und Migranten in Österreich ab den 1960-ern herauszufinden, auch jenseits der Arbeit.“

Dieser Artikel ist in der Oktober-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version steht hier zur Verfügung (PDF).