Ein Wörterbuch für Gilgamesch

Im Süden Mesopotamiens, auf dem Gebiet des heutigen Irak, entstand vor etwa 6.000 Jahren eine der ältesten städtebauenden Kulturen der Menschheit. Voretwa 5.000 Jahren wurde dort von den Sumerern die Keilschrift entwickelt. Trotz dieser historischen Bedeutung gibt es bis heute kein umfassendes Lexikon des Sumerischen – ein Umstand, den Innsbrucker Forscher ändern wollen.
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Ein Beispiel für sumerische Keilschrift aus dem 26. vorchristlichen Jahrhundert. (Foto: Schøyen Collection MS 3029/Wikimedia Commons)

Sumerisch ist eine der ältesten Schriftsprachen der Welt: Bereits aus der Zeit um 3.200 vor Christus sind Texte überliefert, ähnlich alte schriftliche Zeugnisse gibt es bisher nur aus dem alten Ägypten. Das heute wohl bekannteste literarische Werk mit sumerischen Vorläufern ist das Gilgamesch-Epos. Trotz dieser historischen Bedeutung des Sumerischen gibt es bis heute kein umfassendes Lexikon der Sprache. Dieses Manko wollen Forscher des Instituts für Alte Geschichte und Altorientalistik nun beheben: „Wir arbeiten an dem Corpus der Balaĝ-Lieder – Balaĝs heißen sie nach dem Musikinstrument, vermutlich einer großen Trommel, das bei ihrer Aufführung gespielt wurde –, einem sehr umfassenden Textkorpus von religiösen Klageliedern“, erklärt Ass.-Prof. Dr. Martin Lang, Leiter des vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projekts. Martin Lang und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter knüpfen mit ihrem Vorhaben an ein Forschungsvorhaben an, das am Institut seit 1967, damals unter Prof. Karl Oberhuber, begonnen und etwas später mit Prof. Manfred Schretter weitergeführt wurde: ein Lexikon der sumerischen Sprache. Trotz seiner Pensionierung ist Manfred Schretter auch heute noch aktiv an der Lexikonarbeit beteiligt.

Sumerische Sprache und Schrift

Während die ältesten Keilschrifttexte rein logographisch überliefert sind, das heißt, ein Zeichen steht für ein Wort, wandelt sich die Schrift zu einem logographisch-syllabischen System. Durch das syllabische Prinzip wird die Sprache hinter der Schrift erkennbar, das Sumerische ist daher ab etwa 2.600 vor Christus nachweisbar. Die Sumerer gelten als Erfinder dieser Keilschrift, die sich später als Schriftsystem auch über Mesopotamien hinaus verbreiten sollte und für andere Sprachen weiterentwickelt wurde. Die Keilschrift selbst verschwand erst lange nach Aussterben des Sumerischen als lebendige Sprache. „Sumerisch ist eine isolierte Sprache, wir kennen keine damit verwandte Sprache“, erklärt Projektmitarbeiter Dr. Sebastian Fink. „Wir erschließen uns das Sumerische hauptsächlich durch das Akkadische, das zur gleichen Zeit im selben Gebiet gesprochen wurde.“ Akkadisch ist eine semitische Sprache und konnte aufgrund der Verwandtschaft mit heute noch bestehenden Sprachen relativ früh entziffert und übersetzt werden. „Es sind zahlreiche Wortlisten überliefert, die jeweils ein Wort in Sumerisch in akkadischer Übersetzung wiedergeben – antike Wörterbücher mit tausenden von Einträgen, die uns das Sumerische recht gut erschließen. Neben diesen Listen gibt es aber auch zweisprachig überlieferte, ganze Texte, zu denen die von uns lexikographisch erfassten Balaĝ-Lieder gehören“, sagt Martin Lang.

Als aktiv gesprochene Sprache starb Sumerisch bereits um 2.000 vor Christus aus, Akkadisch wurde noch lange bis ins erste Jahrtausend vor Christus hinein verwendet. Die sumerische Sprache lebte als Wissenschafts- und Sakralsprache ebenfalls noch rund 2.000 Jahre in Mesopotamien weiter und hatte ihr letztes Refugium in alt-ehrwürdigen Tempeln. Das jüngste, bisher datierte Keilschriftdokument stammt aus dem Jahr 75 n. Chr. „Sumerisch wurde, ähnlich der lateinischen Sprache später, noch lange als Sprache von Religion und Wissenschaft weiterverwendet. Die Balaĝ-Lieder, die wir bearbeiten, stammen als niedergeschriebene Dokumente auf Tontafeln alle aus einer Zeit, in der Sumerisch nicht mehr im Alltag gesprochen wurde“, erklärt Martin Lang. Akkadisch und Sumerisch beeinflussten sich im zweisprachigen Sprachareal Mesopotamiens gegenseitig: So übernimmt die akkadische Sprache Wortformen, ja sogar Elemente der Grammatik aus dem Sumerischen, und sumerische Texte, die nach Ende des Sumerischen als Alltagssprache verfasst wurden, weisen teilweise aus dem Akkadischen bekannte Strukturen auf. „Über den Umweg des Akkadischen leben sogar einige ursprünglich sumerische Wörter noch in heutigen semitischen Sprachen, also etwa dem Arabischen, dem Hebräischen oder dem Aramäischen, fort“, sagt Martin Lang.

Übersetzung und Überlieferung

Die Babylonier betrieben bereits Textkritik und Textvergleiche. Gerade bei religiösen Texten gibt es unterschiedliche Übersetzungen und Deutungen, es gibt sogar Kommentarliteratur. „Wir haben in unseren zweisprachig überlieferten kultischen Klageliedern teilweise bei einer sumerischen Original-Textzeile fünf verschiedene Deutungen auf Akkadisch vorliegen. Das erinnert beispielsweise ein wenig an spätere Bibelübersetzungen, etwa vom Hebräischen ins Aramäische, den sogenannten Targumim, wo man versuchte, einerseits völlige Worttreue sicherzustellen, andererseits dann doch dem Text einen Meta-Sinn zu verleihen, ja sogar theologische Weiterentwicklungen zu berücksichtigen. Im Falle unserer kultischen Klagelieder zeigen sich beizeiten gelehrte Versuche, alle irgendwie denkbaren Möglichkeiten in einer Übersetzung zu erfassen“, erläutert Sebastian Fink. Auch Abweichungen zwischen unterschiedlichen Original-Vorlagen und fehlende Passagen werden bereits damals in der jeweiligen Übersetzung notiert. Diese gründliche Beschäftigung der akkadisch-sprachigen Schreiber mit dem Originalmaterial erleichterte den Zugang zur sumerischen Sprache.

Die Innsbrucker Forscherinnen und Forscher pflegen auch intensive internationale Kontakte: So gibt es derzeit in München und in Bern jeweils ein ähnliches Projekt. In München wird an einem Lexikon auf Basis von Wirtschafts- und Verwaltungstexten, in Bern auf Basis von literarischen Texten gearbeitet. Der Wortschatz der so reichen sumerischen Überlieferung kann lexikographisch sinnvoll nur erfasst werden, wenn jeweils Teilcorpora bearbeitet und die Lexika quasi „modular“ erstellt werden. „Ziel ist es, diese drei Arbeiten an Lexikonprojekten zu vernetzen und zu einem umfassenden Lexikon zusammenzuführen“, sagt Martin Lang. Das Innsbrucker Balaĝ-Projekt läuft noch bis 2014.