Ein zwiespältiger Reformer
1848 erschüttern Aufstände gegen absolutistische Monarchien halb Europa. Auch im Habsburgerreich begehren Bürger gegen das „System Metternich“ auf, in Wien kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Szenen. Tragende Säulen dieses Aufstands waren Studenten und Universitätslehrer, sie forderten Verfassung, Pressefreiheit sowie Lehr- und Lernfreiheit. Viele Zugeständnisse, die die Revolutionäre erkämpfen konnten, wurden in den 1850er Jahren allerdings rückgängig gemacht. Die Bildungsreform von Unterrichtsminister Thun-Hohenstein wurde hingegen weitgehend beibehalten. „Diese Universitätsreform war eine wesentliche Errungenschaft des Revolutionsjahrs 1848“, ist Christof Aichner überzeugt. Er arbeitet an einem vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Projekt zu Leo Thun-Hohenstein.
Strikte Lehrpläne
„Die Universitäten wurden mit der Thun-Hohensteinschen Reform zu wissenschaftlichen Einrichtungen“, betont Christof Aichner. Im Vormärz, den Jahrzehnten vor der Revolution, waren die Universitäten reine Lehr- und Ausbildungsanstalten gewesen. Forschung fand an Universitäten nicht statt. „Auch die Möglichkeit, im Ausland zu studieren, gab es kaum“, erklärt Dr. Tanja Kraler, eine weitere Projektmitarbeiterin. Das alles sollte sich mit der Reform Thun-Hohensteins ändern. „Wir waren bei unseren Forschungen überrascht, wie sehr sich Diskussionen wiederholen“, sagt Tanja Kraler. „Vieles, was damals diskutiert wurde, etwa die Frage des Zwecks der Universitäten und der Nutzen eines Studiums, wird auch heute wieder aufgeworfen.“ Neben den Universitäten wurden ab 1849 auch die Gymnasien reformiert: Die Matura als Studienberechtigung wurde eingeführt, davor war die Universität selbst mit einem zweijährigen philosophischen Grundstudium für die Universitätsreife ihrer Studenten zuständig gewesen. „Seit damals dauert das Gymnasium acht statt sechs Jahre und endet mit der Matura“, erklärt Tanja Kraler. Die Abschaffung dieses Grundstudiums führte zugleich zu einer Aufwertung der Philosophischen Fakultät, die nun als gleichberechtigte Fakultät neben die Rechts-, Theologie- und Medizin-Fakultäten rückte. „Die neuen Philosophischen Fakultäten, die damals noch Geistes- und Naturwissenschaften umfassten, wuchsen rasch und die damals entstandenen Disziplinen formen die Universitäten bis heute“, sagt Christof Aichner. Zentrale Elemente der Neugestaltung der Universitäten in Österreich waren außerdem die Gewährung der Lehr- und Lernfreiheit und die Übertragung der Verwaltung der Universitäten auf die Professorenschaft. Die Reformen Thun-Hohensteins prägen die Organisation und das Selbstverständnis der Universitäten in weiten Teilen bis heute. „Ein Nachdenken über die Thun-Hohensteinschen Reformen schließt immer auch ein Nachdenken über aktuelle Entwicklungen im Bildungswesen ein. Von besonderem Interesse ist auch der Stellenwert der Naturwissenschaften: Vor 150 Jahren mussten die ‚Realfächer’ um ihre Anerkennung kämpfen, heute beherrschen sie die Wissenschaftslandschaft“, stellt Projektleiterin Prof. Brigitte Mazohl fest.
Auch in Innsbruck legten die Reformen den Grundstein für den Aufschwung der Universität. „In Innsbruck gab es 1848 das Gerücht, dass die Universität aufgelassen und nach Salzburg verlegt werden sollte“, erzählt Christof Aichner. Diese Angst stellte sich als unbegründet heraus, sie führte jedoch zu intensiven Debatten um die Rolle der Universität in Innsbruck. Eine Folge dieser Debatte war auch die Forderung, die damals nicht bestehende Theologische Fakultät wieder zu errichten. Die von der Landespolitik ebenfalls geforderte Aufwertung der medizinischen Ausbildung und Einrichtung einer vollwertigen Medizinischen Fakultät sollte allerdings erst 1869 folgen. „Argument der Landespolitik für die Universität Innsbruck war damals vorwiegend der Wirtschaftsfaktor Universität, aber auch, die Studenten vor der Großstadt Wien zu bewahren und im katholischen Tirol zu halten“, sagt Christof Aichner.
Der Reformer Thun-Hohenstein
Leo Thun-Hohenstein ist für die Historiker auch als Person interessant, spiegeln sich doch in ihm die zeitgenössischen Spannungen zwischen liberalen und katholischen Aufklärungstraditionen wider. „Die Berufung von Protestanten nach Österreich wurde ihm von katholischer Seite, die Verständigungspolitik mit der katholischen Kirche von liberaler Seite übelgenommen“, erklärt Brigitte Mazohl. Thun-Hohenstein wurde 1811 in Tetschen (Děčín, Tschechische Republik) geboren, seine Familie stammt ursprünglich allerdings aus dem Tiroler Raum (Nonstal, Trentino), wo bis heute ein Zweig der Familie Thun lebt. Unterrichtsminister war er von 1849 bis 1860. „Nach seiner Amtszeit als Unterrichtsminister war Leo Thun prominenter Wortführer konservativer Gruppen in der Habsburgermonarchie“, sagt Tanja Kraler. Dabei wird deutlich, dass Thun als Minister die Staatsräson über seine eigene politische Haltung stellte: Trat er ab 1861 für die politische Autonomie der Länder (insbesondere Böhmens) ein, so stützte er als Minister zunächst den zentralistischen Kurs der Regierung. Die Rezeption seiner Person und seines Schaffens fällt deshalb durchaus ambivalent aus: „Noch zu Lebzeiten wurde er als ‚Mann ohne Rückgrat’ bezeichnet, später, als die Universitäten Ende des 19. Jahrhunderts einen Aufschwung erlebten, jedoch als Reformer gefeiert und zum liberalen Politiker verklärt“, erklärt Kraler. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann eine differenzierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Thun-Hohensteins Vermächtnis.
Das FWF-Projekt:
Im Rahmen eines von Prof. Brigitte Mazohl geleiteten Projekts zu Thun-Hohenstein wird die gesamte erhaltene Korrespondenz Thun-Hohensteins aus dessen Ministerzeit vollständig digital editiert und aufgearbeitet. Die digitale Edition wird dabei von Christian Eugster betreut, der sich seit Jahren mit digitaler Langzeitsicherung befasst. Bei einer Tagung Anfang Juni wurde diese Korrespondenz erstmals in Teilen präsentiert. Ein weiteres Ziel der Tagung lag darin, Umsetzung und Folgen der Reform über die Universitäten Wien, Graz und Innsbruck hinaus auch an den anderen (damals) „österreichischen“ Universitäten in Prag, Pest, Krakau, Lemberg, Padua und Pavia zu untersuchen, wie Brigitte Mazohl bei Eröffnung des Symposions feststellte. Dazu waren Expertinnen und Experten aus Wien und Graz sowie aus Ungarn, Tschechien und Italien eingeladen.
Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).