Lieber Künstler als Depp

Das Innsbrucker Brenner-Archiv kümmert sich um den Vorlass des bekannten Südtiroler Autors und Malers Georg Paulmichl.Aufgearbeitet werden sowohl die Werke des Künstlers mit Behinderung als auch ihre Rezeption im Literaturbetrieb.
Georg Paulmichl und Dietmar Raffeiner
Georg Paulmichl und sein Betreuer Dietmar Raffeiner im Jahr 2010. Foto: www.georgpaulmichl.com

„Ein Künstler sein ist feiner als ein Depp“, ließ der weit über die Grenzen Südtirols hinaus bekannte und mehrfach ausgezeichnete Dichter und Maler Georg Paulmichl anlässlich einer Ausstellungseröffnung verlauten. Eben diese Fähigkeit, die eigene Situation, aber auch alltägliche, tagespolitische und gesellschaftliche Beobachtungen in eine unverkennbare und mitunter überraschende Kurzprosa zu fassen, hat ihm unter anderem die Anerkennung und Beachtung von Literaturkritikerinnen und -kritikern im gesamten deutschsprachigen Raum und die Bewunderung prominenter Kollegen wie Felix Mitterer eingebracht. Paulmichls Künstlerkarriere begann in den 1980er Jahren in der Behindertenwerkstätte in Prad am Stilfser Joch, die er noch heute besucht. Damals entdeckte sein Betreuer Dietmar Raffeiner Paulmichls künstlerisches und sprachliches Talent und förderte ihn. 1987 erschien „Strammgefegt“, das erste von sechs erfolgreichen Büchern. Das Brenner-Archiv hat in Kooperation mit der Lebenshilfe Tirol und Südtiroler Künstlerbund vor rund einem Jahr damit begonnen, Paulmichls Vorlass zu sichern. Darüber hinaus wird die Entstehung seiner Bücher ebenso wie deren Rezeption beleuchtet. Wie immer, wenn ein Bestand in das Archiv aufgenommen wird – die Sammlung Paulmichl ist im Übrigen einer von vielen hochkarätigen Neuzugängen der letzten Jahre – wurden die Kernbestände zunächst geordnet, katalogisiert und digitalisiert, um sie für eine weitere wissenschaftliche Bearbeitung überhaupt zugänglich zu machen.

Einfluss des Betreuers

„Paulmichl ist ein Musterbeispiel dafür, wie viel Menschen mit so genannten Behinderungen zu sagen haben. Darüber hinaus ist es faszinierend, dass jemand, der gemeinhin als geistig behindert gilt, sechs Bücher veröffentlichen und in den Mittelpunkt der ganzen Literaturlandschaft geraten kann“, sagt Projektleiter Ao. Univ.-Prof. Johann Holzner. Dennoch oder gerade deshalb taucht wohl im Zusammenhang mit Georg Paulmichl immer wieder die Frage auf, welche Rolle sein Betreuer und Freund Dietmar Raffeiner bei der Entstehung der Texte spielte. Das hat sich laut Projekt-Mitarbeiterin Mag. Irene Zanol insbesondere bei der Auswertung der Rezeptionszeugnisse gezeigt. Die Germanistin hat sich im vergangenen Jahr der wissenschaftlichen Erschließung der Sammlung gewidmet, zu der auch Rezeptionsdokumente zählen. „Man kann durchaus behaupten, dass Dietmar Raffeiner Mitverfasser der Texte ist, denn sie hätten ohne Assistenz allein schon aufgrund der motorischen Einschränkungen Georg Paulmichls nicht entstehen können. Auch der Anstoß, durch ein Frage-Antwort-Spiel überhaupt Texte entstehen zu lassen, kam von seinen Betreuern“, legt Zanol ihre Einschätzung über das Ausmaß der Mitwirkung Raffeiners an den Texten dar. „Inwieweit die von Paulmichl diktierten Sätze bearbeitet oder verändert wurden, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Das gilt aber auch für die Arbeit der meisten Lektoren und sollte keinesfalls maßgebliches Kriterium der Beurteilung des literarischen Werts der Texte sein“, gibt die Wissenschaftlerin zu bedenken. Sie glaubt auch, dass Raffeiners Engagement zu keiner Zeit den Interessen des Kunst- und Literaturbetriebs, sondern Paulmichl selbst dienen sollte: „Er hat es seinem Freund und Schützling ermöglicht, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten. Dadurch kam und kommt es zu einer Auseinandersetzung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, die außerhalb der Literatur vielleicht nicht stattgefunden hätte.“

Kritik an der Kritik

Wie der Literaturbetrieb mit Paulmichls Werk umgehe, müsse besonders genau hinterfragt werden, meint Johann Holzner. Dies zähle zu den wesentlichen Aufgaben des Forschungsinstituts im Zusammenhang mit der Sammlung. „In vielen Fällen ist die kognitive Beeinträchtigung Paulmichls ein Bonus, in manchen aber auch ein Malus“, betont Holzner, „Im Diskurs über Paulmichls Bücher sind außerdem kaum begründete Werturteile, dafür aber immer wieder die gleichen Stehsätze anzutreffen.“ Ein möglicher Grund dafür liegt nach Einschätzung von Irene Zanol darin, dass Kritikerinnen und Kritiker, aber auch Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler sich schwertun, mit dem umzugehen, was einer vermeintlichen Norm nicht entspricht. „An die Stelle einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Werk eines Menschen mit geistiger Behinderung werden außerliterarische Fragen gerückt“, so Zanol.

Unveröffentlichtes Material

Die Sammlung Paulmichl enthält auch eine Reihe von unveröffentlichten Texten, die – so vermuten die Wissenschaftler aufgrund der gewählten Themen – aus den frühen Jahren von Paulmichls Schaffen stammen. Sie in den Kontext seines gesamten Werkes einzuordnen und mögliche Unterschiede und Entwicklungen zu den späteren Texten herzustellen, ist Ziel der letzten Projektphase. Eine Veröffentlichung mit einem ausführlichen Nachwort kann sich Johann Holzner vorstellen.

Kulturelles Gedächtnis Tirols

Das Brenner-Archiv ist eines von sechs Forschungsinstituten der Universität Innsbruck und zugleich das Tiroler Literaturarchiv. Es wurde 1964 durch einen Vertrag zwischen der Republik Österreich und Ludwig von Ficker gründet. Seinen Namen verdankt es der Kulturzeitschrift „Der Brenner“, die von 1910 bis 1954 von Ludwig von Ficker herausgegeben wurde. Es zählt zu den renommiertesten und zuverlässigsten Literaturforschungsinstitutionen in Österreich, weshalb viele prominente Künstler dem Brenner-Archiv bereits ihren Vorlass anvertrauen.
Heute verwahrt das Brenner-Archiv rund 220 Nachlässe, Teilnachlässe und Sammlungen vor allem von Schriftstellerinnen und Schriftstellern, aber auch von Philosophen, Musikern und Künstlern. In den letzten Jahren wurde der Sammlungsschwerpunkt zunehmend auch auf Südtirol ausgedehnt. Ein Anliegen des Archivs und seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist es, auch die nicht-akademische Öffentlichkeit für literarhistorische Zusammenhänge zu interessieren. Leiter des Brenner-Archivs war in den letzten zwölf Jahren Ao. Univ.-Prof. Mag. Dr. Johann Holzner; seit Ende September ist er in Pension.

Dieser Artikel ist in der Oktobet-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).