Menschen beeinflussten Gletscherrückgang schon vor 150 Jahren
Gletscheraufzeichnungen reichen in den Alpen bis ins 16. Jahrhundert zurück, Wetteraufzeichnungen bis ins 18. Jahrhundert. Diese Aufzeichnungen belegen, dass die Gletscher zwischen 1860 und 1930 im Durchschnitt rund einen Kilometer zurückgewichen sind, obwohl niedrige Temperaturen und ausreichend Niederschlag ein Wachsen der Gletscher bis ca. 1910 erlaubt hätten. An der Auflösung dieses Widerspruchs arbeiten Glaziologen und Klimaforscher schon länger. Ein Team von amerikanischen und österreichischen Forschern hat nun eine wahrscheinliche Erklärung gefunden: Schuld ist die Industrialisierung. Damit wäre ein menschengemachter Einfluss auf die Gletscher bereits vor dem treibhausgetriebenen Anstieg der Temperaturen im 20. Jahrhundert nachgewiesen.
Auflösung eines Widerspruchs
„In den uns vorliegenden Temperatur- und Gletscherdaten fehlte ganz klar ein Einflussfaktor. Also haben wir uns die historische Entwicklung Europas im 19. Jahrhundert näher angesehen“, erklärt Prof. Georg Kaser vom Institut für Meteorologie und Geophysik, der zusammen mit Dr. Ben Marzeion vom selben Institut an der Studie beteiligt war und der als Hauptautor auch am Kryosphären-Kapitel des fünften Klimareports des Weltklimarates (Intergovernmental Panel on Climate Change, IPCC) mitschrieb. Ab den 1850ern hat Europa eine massive wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation durchgemacht, die von der Industrialisierung des Kontinents vorangetrieben wurde. Der Kohleverbrauch von Privatpersonen, der Transportinfrastruktur – besonders der Eisenbahn – und vor allem der entstehenden Industrie stieg rasant, und mit ihm der Ausstoß von Ruß.
Eine Eigenschaft von Rußpartikeln ist allgemein bekannt: Sie absorbieren das Sonnenlicht. Durch ihre Größe konzentrieren sie sich in den unteren Schichten der Atmosphäre und kommen so vor allem auch auf den unteren Bereichen der Gletscher zu liegen. In dieser sogenannten Ablationszone kommt Gletscherschmelze durch höhere Temperaturen besonders in den Sommermonaten ganz natürlich vor; Rußpartikel, die auf den Gletschern zu liegen kommen, verstärken und beschleunigen die Schnee- und Gletscherschmelze allerdings stark.
Computermodelle und Probebohrungen
Um den Anteil von Rußpartikeln an der Gletscherschmelze ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu bestimmen, übernahmen die Forscher Daten von Eiskernbohrungen aus höheren Gletscherlagen und verglichen die Menge an früher eingelagerten Rußpartikeln mit heutigen Messungen der Rußverteilung in den Alpen. So war es möglich, Rückschlüsse auf die Rußmengen, die ab 1850 in den niederen Gletscherlagen niedergegangen sein müssen, zu ziehen. In einem Computermodell hat Dr. Ben Marzeion anschließend die Auswirkungen des beobachteten Temperaturrückgangs ab 1850 und der Rußmengen auf die alpinen Gletscher dieser Zeit simuliert. „Unter Einberechnung der Luftverschmutzung stimmten unsere Modelle mit den Quellen zum Gletscherrückgang aus dieser Zeit schließlich überein. Unsere Studie klärt nun möglicherweise einen Widerspruch auf, der Klimaforscher für Jahrzehnte beschäftigt hat“, sagt Georg Kaser. „Nach den Alpen müssen wir nun auch einen genaueren Blick auf die Auswirkungen von Ruß auf andere Weltgegenden werfen, etwa auf das Himalaya-Gebiet. Die Studie zeigt klar, welche weitreichenden Auswirkungen unsere Handlungen auf das Weltklima haben können.“
Internationale Studie
Die Studie wurde kürzlich im Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Sciences“ (PNAS) publiziert. Projektleiter war Thomas Painter vom Jet Propulsion Laboratory der NASA in Pasadena (Kalifornien, USA). Neben den Wissenschaftlern der Universität Innsbruck und der NASA waren außerdem Forscher des Cooperative Institute for Research and Environmental Sciences (CIRES) der Universität von Colorado in Boulder (USA), der Universität von Michigan, Ann Arbor (USA) und der Universität von Kalifornien, Davis (USA) beteiligt.