Das Übersehene Steinkraut
Bei der Gattung Steinkraut (Alyssum) handelt es sich um eine große und komplizierte Gattung aus der Familie der Kreuzblütler. Viele der im Aussehen sehr variablen Arten sind noch nicht klar voneinander abgegrenzt oder überhaupt untersucht worden. Marianne Magauer konzentrierte sich in ihrer Masterarbeit auf das nach einem Gipfel der Karawanken benannte Obir-Steinkraut (Alyssum ovirense). Sein Verbreitungsschwerpunkt liegt in den Südlichen Kalkalpen, eine isolierte Population befindet sich jedoch am Hochschwab-Massiv in den Nördlichen Kalkalpen. Dazwischen liegen die silikatischen Zentralalpen, die für das kalkliebende Steinkaut eine Verbreitungsbarriere darstellen. Die Frage, wie dieses Verbreitungsmuster zustande kommt, stellten sich Univ.-Prof. Dr. Peter Schönswetter und Assistenzprofessor Dr. Božo Frajman, Marianne Magauers Betreuer aus der Forschungsgruppe Evolutionäre Systematik am Institut für Botanik.
Methodenkombination
Neben den südlichen und nördlichen Alyssum ovirense-Populationen untersuchte Marianne Magauer im Rahmen ihrer Arbeit auch eine weitere Steinkraut-Art, das Wulfen-Steinkraut Alyssum wulfenianum – ein rund 1500 bis 2000 Meter tiefer wachsender und extrem gefährdeter Vertreter der Gattung. „Bei Alyssum wulfenianum bezog sich meine Fragestellung darauf, ob sein aktueller taxonomischer Status als eigenständige Art gerechtfertigt ist, oder ob es sich dabei lediglich um eine Tiefland-Variante von Alyssum ovirense handelt“, erläutert Marianne Magauer. „Da die Blattform anders ist als bei Alyssum ovirense – was nur durch die geänderten Lebensbedingungen im Tiefland schwer erklärbar wäre – ging man davon aus, dass es sich um eine eigene Art handelt, geprüft wurde es allerdings nie“, ergänzt Peter Schönswetter. Um die noch offenen Fragen zu klären, untersuchte die Botanikerin die drei Populationsgruppen auf ihre ökologischen, morphologischen, karyologischen und genetischen Eigenschaften. „Bereits die Ökologie zeigte deutliche Unterschiede: Während die Populationen in den Südlichen Kalkalpen als Pionierpflanzen auf offenen Kalkschutthalden wachsen, bevorzugt die Steinkraut-Population in den Nördlichen Kalkalpen dichte Rasenpolster oder Rasengirlanden“, beschreibt Magauer. Weniger überraschend war die unterschiedliche Ökologie von Alyssum wulfenianum, da diese aufgrund der tieferen Lage andere Bedingungen vorfinden. Zudem zeigten die Untersuchungen der Botanikerin auch karyologische Unterschiede. „Während die südlichen Alyssum ovirense Populationen und auch Alyssum wulfenianum diploid sind – also über zwei Chromosomensätze verfügen – sind die am Hochschwab vorkommenden Individuen hexaploid, das heißt sie verfügen über sechs Chromosomensätze“, erklärt Marianne Magauer.
Lange Geschichte
Die Unterschiede zwischen den Steinkraut-Populationen sind auch morphologisch zu erkennen. Die Blattunterseiten südalpischer Populationen des Obir-Steinkrauts sind nur vereinzelt mit Sternhaaren bedeckt, jene der Population am Hochschwab sind dicht mit Sternhaaren bewachsen.
Dieser Unterschied fiel bereits einem der bedeutendsten Botaniker des 20. Jahrhunderts auf: August von Hayek, der auch an der Universität Innsbruck forschte, bezeichnete die Art in seinen Aufzeichnungen aus den Zwanziger-Jahren als Alyssum nova species mit dem Vermerk, diese aus Mangel an Früchten noch nicht beschrieben zu haben. „Aus nicht bekannten Gründen hat Hayek die wissenschaftliche Beschreibung der Art dann vergessen“, so Magauer, die Hayeks Aufzeichnungen im Rahmen ihrer Recherche entdeckte. Der genetische Fingerabdruck der einzelnen Populationen belegte, dass von Hayek richtig lag. Die Population am Hochschwab grenzt sich genetisch deutlich von den südlichen Populationen ab. „Deshalb haben wir die Hochschwab-Population als neue Art beschrieben. Aufgrund ihrer Geschichte haben wir uns für den Namen Alyssum neglectum, das Übersehene Steinkraut, entschieden“, erklärt Marianne Magauer. Die genetischen Untersuchungen zeigten zudem, dass Alyssum wulfenianum aus tiefen Lagen genetisch nicht von Alyssum ovirense aus den Hochlagen der Südlichen Kalkalpen unterschieden werden kann, „Die genetischen Unterschiede innerhalb der südlichen Alyssum ovirense-Populationen waren größer als die zwischen Alyssum ovirense und Alyssum wulfenianum“, so Magauer. „Aufgrund dieser Ergebnisse ist der taxonomische Status als eigene Art also nicht gerechtfertigt, aufgrund der unterschiedlichen Morphologie schlagen wir eine Trennung in Unterarten vor.“ Da bei der Vereinigung zweier Arten immer der ältere Name weitergeführt werden muss, wird Alyssum ovirense künftig also als Alyssum wulfenianum subspecies ovirense geführt werden.