Existenzielle Grenzerfahrungen
„Ich wollte immer Französisch und Philosophie studieren – wegen einer großen Leidenschaft zu französischen Autoren wie Albert Camus und Jean-Paul Sartre, die gleichzeitig Philosophen waren“, erzählt Julia Pröll. Um sich wissenschaftlich mit ihrer Leidenschaft beschäftigen zu können, nahm sie einen Umweg in Kauf: Parallel zu ihren Traumfächern wählte sie ein zusätzliches „Brotstudium“, nämlich Jura, und legte an der Uni Innsbruck eine erste Promotion im Bereich Rechtsphilosophie ab. Da sich ihr Enthusiasmus für Literatur aber nicht bändigen ließ, habe sie sich dann auf eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Romanistik beworben, sagt sie. Es folgten eine zweite Promotion – zum französischen Star- und Skandalautor Michel Houellebecq – und die Habilitation, die bereits an der Schnittstelle von Literatur- und Kulturwissenschaft sowie Psychologie und Medizin angelegt war. Doch während es in dieser Arbeit um asiatische Schriftsteller ging, die sich in Frankreich niedergelassen haben und dort auf Französisch publizieren, will Julia Pröll jetzt zeitgenössische asiatische Autoren im frankophonen Kanada (Quebec) unter die Lupe nehmen. „Im Humboldt-Forschungsprojekt sollte ein Vergleich zwischen beiden Autorengruppen möglich sein.“
„Exil ist eine Krankheit“
Die Ausgangsüberlegung ihres Forschungsprojekts sei ein prägnanter Vergleich von Hilde Spiel gewesen, einer österreichisch-jüdischen Schriftstellerin und Journalistin: „Das Exil ist eine Krankheit. Sie ergreift den Geist, das Gemüt.“ „Krankheit wird in der Literatur zwar schon immer als existenzielle Grenzerfahrung niedergelegt; wohl auch deshalb, weil Literatur viele Ausdruckspotenziale bereithält, um zum Beispiel Schmerz zu artikulieren“, erklärt Julia Pröll. Sie habe sich aber speziell für die Frage interessiert, wie Migrationsautoren Kranksein und Auswanderung in ihren Texten behandeln, denn bislang gebe es hierzu noch keine einschlägige literaturwissenschaftliche Studie. Die Erforschung dieser Thematik sieht sie auch als Beitrag zu einer als „Lebenswissenschaft“ verstandenen Literaturwissenschaft: „Erforscht man literarische Darstellungen von potenziell krisenhaften Erfahrungen wie Krankheit und Migration, wird einem bewusst, dass Literatur ‚Lebenswissen‘ speichert und produziert.“ Von der Erschließung dieses Wissens könnten, so Julia Pröll, Philologen und Mediziner gleichermaßen profitieren. Letztere vor allem deswegen, weil sie in einer globalisierten Welt immer mehr mit erkrankten Migranten konfrontiert sind, die ihre Symptome vielleicht anders artikulieren als „westliche“ Patienten.
Krankheiten, die mit Verlust zu tun haben
In den Fokus nimmt Julia Pröll Schriftsteller aus China, Vietnam, Japan und Korea von den 1980er Jahren bis heute. „Ich wollte auch eine andere medizinische Tradition thematisieren und vergleichen, wie die fernöstliche Tradition und die westliche Schulmedizin ins Verhältnis gesetzt werden“, sagt die Literaturwissenschaftlerin. Daneben interessiert sie sich dafür, von welchen Krankheiten die Romanfiguren hauptsächlich betroffen sind und mit welchen ästhetischen Mitteln sie dargestellt werden. „Sogenannte kulturgebundene Syndrome spielen kaum eine Rolle“, resümiert sie Ergebnisse aus ihrer Habilitation. „Ebenso wenig geht es um postmoderne Krankheitsbilder wie die Borderline-Störung oder das Burnout-Syndrom, Depressionen oder ADHS, sondern eher um Krankheiten, die mit Verlust zu tun haben: beispielsweise um Melancholie oder Nostalgie im psychischen Bereich oder um amputierte Körperglieder im körperlichen Bereich.“
Traumatische Fluchten oder Exil werden indessen kaum thematisiert, hat Julia Pröll herausgefunden. Das entspreche dem Umstand, dass die meisten Autoren nicht aus ihrer Heimat geflohen, sondern freiwillig ausgewandert sind, beispielsweise als Stipendiaten. „Die Migrationserfahrung selber wird eher nicht als krankmachend beschrieben. Die meisten Autoren und ihre Figuren profitieren vielmehr von einem „Doppeltsehen“: Zum Beispiel können sie asiatische und westliche Medizintraditionen gleichzeitig in den Blick nehmen und entdecken, dass Medizin immer auch kulturelle Wurzeln hat.
Gemeinsam mit Professor Hans-Jürgen Lüsebrink von der Universität des Saarlandes will die Humboldt-Stipendiatin während ihres Aufenthaltes im Saarland noch ein weiteres Vorhaben umsetzen: eine Bestandsaufnahme von frankophonen Schriftstellerärzten, die im 20. Jahrhundert in Frankreich und in den frankophonen Kulturen sowohl als Schriftsteller als auch als Ärzte aktiv sind. „Wir wollen unter anderem untersuchen, wie sich das medizinische Wissen der Autoren in ihren Texten widerspiegelt“, erläutert Julia Pröll. Zu diesem Thema ist auch eine Tagung geplant.