Gekämpft, gefangen, vergessen?
Der Erste Weltkrieg sollte eigentlich von kurzer Dauer sein. Über das Thema „Kriegsgefangenschaft“ machten sich die Großmächte vor 1914 daher kaum Gedanken. Allerdings gab es mit der Haager Landkriegsordnung (1899 bzw. 1907) und der Genfer Konvention (1906) völkerrechtlich verbindliche Grundsätze für die Kriegsgefangenenbehandlung. In der Praxis machten sich diese Richtlinien aber nur bedingt bemerkbar, da einerseits einige Bestimmungen den Gewahrsamsmächten (zu) viel Interpretationsspielraum ließen, andererseits militärische Notwendigkeiten über die Einhaltung des Völkerrechts gestellt wurden.
Jeder dritte k. u. k. Soldat geriet in Kriegsgefangenschaft
Rund 73 Millionen Soldaten kämpften im Ersten Weltkrieg. Etwa sieben bis neun Millionen Soldaten gerieten im Lauf des Krieges in Gefangenschaft, fast jeder dritte k. u. k. Soldat war davon betroffen und verbrachte zumindest einen Teil seiner Gefangenschaft in improvisierten Unterkünften (ehemalige Festungen, Kasernen, aufgelassene Fabriken) oder in eigens errichteten Lagern. „Die Männer lebten auf engstem Raum, viele der Unterkünfte waren aus Stein, Holz und Erde gebaut. Die hygienischen Bedingungen waren insbesondere in den ersten zwei Kriegsjahren vielerorts schlecht, Nahrung nur mangelhaft verfügbar. Epidemien waren die Folge. Zudem waren in Russland, im Osmanischen Reich, aber auch in Österreich-Ungarn Gefangene klimatischen Extremsituationen ausgesetzt“, beschreibt Matthias Egger, der in seiner von Prof. Gunda Barth-Scalmani betreuten Dissertation „Gekämpft, Gefangen, Vergessen? Die k.u.k. Regierung und die österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen in Russland 1914-1918“ die Kriegsgefangenenfürsorge der Monarchie aufarbeitet. So schrieb der in russische Kriegsgefangenschaft geratene Kaiserjägeroffizier Ernest Devarda im Jänner 1915 aus dem westsibirischen Tjumen an das k. u. k. Kriegsministerium: „Trotz der wohlwollenden Vorsorgen der russischen Regierung, welche die Kriegsgefangenen (Anm.: rund 230 Kaiserjäger und 45 Landesschützen aus Südtirol) mit einfachen Wäsche-Mäntel für diejenigen die keinen hatten, Stiefel für jene die ihre Beschuhung abgenützt hatten, beteiligte, sind diese braven Soldaten den hiesigen klimatischen Verhältnissen -38 bis -41 Grad Celsius völlig Preisgegeben. Ich schrieb nach Tirol – aber leider vergebens. Ich bitte für diese Kaiserjäger mir etwas zu senden, damit ich das Allernotwendigste besorgen kann. Die Not ist groß – bitte bald um Unterstützung.“ Obgleich völkerrechtlich die „Gewahrsamsmacht“ für eine adäquate Versorgung der Gefangenen verantwortlich gewesen wäre, hing deren Überleben im Alltag oft von der Unterstützung ihres Heimatstaates ab. Im Laufe des Krieges sahen sich daher – mit Ausnahme von Italien – alle europäischen Großmächte dazu veranlasst, Hilfsmaßnahmen für ihre Kriegsgefangenen im feindlichen Ausland zu ergreifen. Diese Unterstützung trug wesentlich zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Kriegsgefangenen bei. „Dies passierte hauptsächlich aus staatspolitischem Kalkül“, wie Matthias Egger in den Akten des k. u. k. Kriegsministeriums herausgefunden hat. Exemplarisch zeigt das ein ministeriumsinternes Dokument aus dem Jahr 1917, wo es heißt: „Die Rettung der Kriegsgefangenen in Rußland ist eine erste, wenn nicht die allererste Frage unserer Zukunft nach dem Kriege. Es ist nicht zuviel gesagt, daß, wenn diese [als eine] Armee von Krüppeln und Kranken heimkehren, wirtschaftlich, sanitär, politisch und sozial höchste Gefahr droht.“
Bereits in den ersten vier Kriegsmonaten verlor Österreich-Ungarn über 270.000 Soldaten allein an Kriegsgefangenen. „Man war auf diese Massen nicht vorbereitet und war zur Improvisation gezwungen. Erst im Laufe des Krieges wurde die Kriegsgefangenenfürsorge professionalisiert“, sagt Matthias Egger. Um die enormen Massen an Gefangenen unterzubringen, wurden großangelegte Lager, sogenannte „Konzentrationslager“, errichtet. In Tjumen, einem von 400 Kriegsgefangenenlagern auf dem Gebiet des Zarenreichs, wo auch der Kaiserjägeroffizier Ernest Devarda gefangen war, lebten im November 1915 rund 6.000 österreichisch-ungarische Kriegsgefangene. Die Situation verbesserte sich erst durch die 1915 anlaufenden Hilfsaktionen und „die seit Mitte 1915 voranschreitenden Heranziehung der gefangenen Soldaten zur Zwangsarbeit, wodurch sich die Lager zu leeren begannen. Im Deutschen Reich waren im August 1916 rund 45 Prozent der Kriegsgefangenen für landwirtschaftliche Tätigkeiten herangezogen worden und in Russland arbeitet im Winter 1916/17 bereits über eine Million Gefangene außerhalb der Lager“, erzählt der Historiker.
Zehntausende Gefangene auch in Tirol
Aufgrund der exponierten geografischen Lage gab es in Tirol keine Kriegsgefangenen-Stammlager. Dennoch wurden zehntausende Gefangene zum sogenannten „Arbeitseinsatz“ nach Tirol gebracht. 1915 arbeiteten in diesem Kronland vermutlich rund 27.000 russische, serbische, italienische und rumänische Gefangene. Sie wurden in der Landwirtschaft, bei der Regulierung von Gewässern und beim Bau von Straßen und Eisenbahntrassen eingesetzt. Unter anderem arbeiteten Kriegsgefangene am Bau der Thierseestraße, der Pitztalstraße und der Grödner Bahn. Während die Heranziehung der Kriegsgefangenen für diese Arbeiten völkerrechtlich wohl gedeckt war, galt dies nicht für die Verrichtung von Arbeiten im Front- und Etappenraum. Dennoch mussten in Deutschland, Frankreich und Russland Kriegsgefangene unmittelbar die Kriegsanstrengungen der jeweiligen Armeen unterstützen. Österreich-Ungarn bildete keine Ausnahme: Dort verrichteten Anfang 1917 vermutlich 295.000 Kriegsgefangene Tätigkeiten bei der ‚Armee im Felde’. „Die überwältigende Mehrheit von ihnen war an der Ostfront eingesetzt, aber auch an der Tiroler Front mussten Kriegsgefangene die k. u. k. Armee unterstützen“, weiß Matthias Egger. Im Ortlermassiv wurden russische Kriegsgefangene beispielsweise zum Seilbahnbau und zum Transport des Nachschubes von der Payerhütte zum Ortlervorgipfel, 3863 m, verwendet. So gelangte das in der Literatur vielzitierte „höchstgelegene Geschütz im Weltkrieg“ mit Hilfe russischer Kriegsgefangener auf den Ortler. Auch an der Dolomitenfront wurden russische und serbische Kriegsgefangene zur Unterstützung eingesetzt. Markus Graf Spiegelfeld (1858-1943), der ranghöchste Vertreter der zivilen Kriegsgefangenenfürsorge der Habsburgermonarchie, inspizierte im Frühsommer 1917 die im Fleims- und Grödnertal eingesetzten Kriegsgefangenen. In seinen Erinnerungen schreibt er über diesen Besuch: „[...] den Gefangenen ging’s elend, ich konnte schließlich nur erreichen, dass die Leute die den riesig schweren Dienst als Träger für die sehr hoch gelegenen Stellungen zu besorgen hatten, ausgewechselt wurden. Entbehren konnte man sie nicht, die Versorgung war auch elend, die Leute hungerten so wie damals die ganze Bevölkerung in Tirol hungerte.“ Inwieweit die von Spiegelfeld geschilderten Zustände repräsentativ waren, ist allerdings unklar, da eine systematische Erforschung der Lebensbedingungen der in Tirol eingesetzten Kriegsgefangenen noch aussteht.
(Daniel Sailer)