Vom „Augusterlebnis“ in die Katastrophe
Ein kurzer Sommerkrieg sollte es werden, zu Weihnachten spätestens seien die Soldaten wieder zurück: Diese Eindrücke vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs sind auch heute noch allgegenwärtig. Dazu gehört auch die vermeintliche und mit entsprechenden zeitgenössischen Fotos illustrierte große Freude in der Bevölkerung über den Krieg. „Dieses ‚Augusterlebnis’, die große Freude, hält sich sehr zäh und wird etwa auch durch Schulbücher und in Medien immer wieder erneuert und weitergetragen. In Wahrheit war die Stimmung in der Bevölkerung schon zu Kriegsausbruch nicht uneingeschränkt freudig“, sagt die Historikerin Prof. Gunda Barth-Scalmani, die die Stimmung im Sommer 1914 von der Ermordung des k.u.k. Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo bis in die ersten Kriegsmonate insbesondere im Raum Innsbruck anhand von Zeitungsquellen und Tagebucheinträgen untersucht.
Sommerbeginn
Zwischen dem Attentat von Sarajevo und der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien liegt genau ein Monat. Der Thronfolger starb am 28. Juni 1914 – und die Reaktion in der Bevölkerung darauf fiel zuerst eher gleichgültig aus: „Franz Ferdinand war in der Bevölkerung nicht sehr beliebt, er galt als Slawen-Freund, was ihm besonders in Ungarn Gegner bescherte“, erklärt die Historikerin. Aber auch im deutschsprachigen Teil Österreich-Ungarns war er nicht sehr angesehen, hätte doch die ihm unterstellte zukünftige Gleichstellung der Slawen das fragile Gleichgewicht der Nationalitäten im Vielvölkerstaat in Gefahr gebracht: „Was heute oft – angesichts der späteren Grausamkeiten des Nationalsozialismus – vergessen wird: Weite Teile der deutschsprachigen Bevölkerung der österreichischen Reichshälfte waren schon lange vor dem Ersten Weltkrieg großdeutsch, viele deutschnational eingestellt. Sie fühlten sich den Slawen kulturell überlegen und lehnten deren Gleichstellungsbestrebungen vehement ab.“ So notierte etwa Erwin Simbriger (1884-1915), ein Innsbrucker Jurist, dessen Tagebuch Gunda Barth-Scalmani untersucht hat, anlässlich des Doppelmordes: „So entsetzlich, unvernünftig und verurteilenswert die schwarze Tat auch war, das Gefühl wurde ich nicht los, daß wenn ich jemandem den Untergang gönnen konnte, es jenes Paar war, das die čechisch-klerikale Zukunft der Monarchie symbolisierte.“
Der 28. Juni 1914 war ein Sonntag, der darauffolgende Montag, der St.-Peter-und-Paul-Tag, ein katholischer Feiertag, an dem alle Ämter und Schulen geschlossen waren. Spontane Reaktionen auf das Attentat sind in den Zeitungen außer der eigentlichen Nachricht keine greifbar. Der Zeitpunkt der offiziellen Leichenfeier in Wien wurde für jeden Tiroler hörbar: „In Innsbruck läuteten am 4. Juli Nachmittags alle Kirchenglocken gleichzeitig eine halbe Stunde lang – das muss sehr eindrücklich gewesen sein. Ob das in mehreren Kronländern so war, wissen wir noch nicht“, sagt Gunda Barth-Scalmani. Am selben Tag gab es außerdem Trauerfeiern der jüdischen und der evangelischen Gemeinde in Innsbruck, am Samstag auch in der Hofkirche. „Nach diesem offiziösen Gedenken geschah dann erst einmal nichts – es war Schulschluss und Sommerbeginn, wer es sich leisten konnte, fuhr in die Sommerfrische. In den Zeitungsberichten dominierten Annoncen zur Zimmervermietung, Meldungen zu Bergunfällen und ähnliches. Es gab zwar allgemeine Betroffenheit über das Attentat, aber es gab keine unmittelbare politische Auswirkung.“
Anspannung Mitte Juli
Erst Mitte Juli ändert der politische Teil der Zeitungen die Tonlage: „Deutschland versicherte Österreich-Ungarn Mitte Juli unbedingten Beistand, den sogenannten ‚Blankoscheck’. Das stand natürlich nicht in den Zeitungen, aber der Ton gegenüber Serbien wird ab da und spätestens mit dem Ultimatum Österreich-Ungarns an Serbien aggressiver.“ Neben Forderungen nach Auflösung terroristischer Organisationen und Unterbindung von kritischer Berichterstattung über Österreich-Ungarn in den Medien enthielt das Ultimatum vom 23. Juli Punkte, die die territoriale Integrität Serbiens verletzt hätten: „Organe der k. u. k. Regierung“ sollten an den Ermittlungen in Serbien mitwirken und dort auch selbst polizeiliche Aufgaben wahrnehmen dürfen – zwei für Serbien nicht annehmbare Forderungen. Nach seiner Ablehnung des Ultimatums und vor der offiziellen Reaktion Österreich-Ungarns mit der Ausrufung der Mobilisierung reagierten die „Innsbrucker Nachrichten“, indirekter Vorläufer der Tiroler Tageszeitung, sehr modern auf das Informationsbedürfnis der Bevölkerung: Am Redaktionsstandort in der Erlerstraße wurden auf eine eigens aufgespannte Leinwand laufend aktuelle Entwicklungen projiziert – eine Art früher Live-Ticker, dazu gab es zwölf Gratis-Extra Ausgaben: Für Zeitungsmacher wie für das städtische Publikum war dieses letzte Juli-Wochenende ein bis dato unbekannter Medien-Hype.
Nach negativer Antwort Serbiens auf das Ultimatum folgte die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien am 28. Juli. Die seither immer wieder kolportierte Begeisterung der Bevölkerung war allerdings ein Phänomen der Städte, der jüngeren Männer und der – wie man heute sagen würde – gehobenen Mittelschicht. Auch Simbriger wurde davon erfasst und schrieb ins Tagebuch: „Und wie der Prinz Eugen Marsch einsetzte, da wußte ich: -- das war der Krieg! Und ein neues ungekanntes Gefühl stieg in mir auf von etwas Großem Gewaltigen.“ Am Land sah die Situation anders aus, vor allem, weil die Männer für die Landarbeit gebraucht wurden: „Aus Pfarrchroniken und persönlichen Dokumenten vom Land ist uns ein ganz anderes Bild überliefert: Etwa erwachsene Männer, die weinten, weil sie an die Front mussten. Aus Loyalität zum Kaiserhaus zog aber auch die Landbevölkerung in den Krieg.“ Die ersten Kriegstage 1914 waren von organisatorischem Chaos begleitet: „Die Stadtbevölkerung Innsbrucks wurde aufgerufen, Männer, die wegen der Mobilisierung eintrafen, kurzzeitig bei sich aufzunehmen und zu verköstigen, da der Platz in den Kasernen nicht ausreichte. Es kam zu Hamsterkäufen und massiven Geldbehebungen bei den Banken.“ Die allgemeine Kriegshysterie sollte sich schon ab September nach den ersten 324.000 Gefallenen und 130.000 Gefangenen an der Ostfront im „Hinterland“ komplett drehen. Die Zensur wurde schärfer und die von oben gesteuerte geistige und wirtschaftliche Mobilisierung zum Krieg eindringlicher.
Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).