Vorgestellt: Über Bildung und Rituale
„Was sind die Voraussetzungen für Bildung, was ist Bildung überhaupt?“ – Diese Fragen standen für Prof. Ruprecht Mattig am Beginn seiner Beschäftigung mit seinem Fach, der Erziehungswissenschaft. Und sie begleiten ihn weiterhin: „Mich interessiert besonders das Spannungsverhältnis zwischen empirischer Erforschung von Bildung und theoretischer Reflexion – die Unterschiede zwischen Praxis und Theorie in der Pädagogik“, sagt der Wissenschaftler. Mattig ist seit Oktober 2013 Professor für die Erziehungswissenschaft der Generationen am Institut für Erziehungswissenschaft. Ursprünglich hatte der gebürtige Berliner Volkswirtschaftslehre an der Freien Universität Berlin studiert, stieg dann aber auf die Erziehungswissenschaft als Fächerzusatz um. „Ich habe auch VWL fertigstudiert, war aber am Ende mit dem Menschenbild des homo oeconomicus nicht ganz einverstanden – da fehlen einige Facetten des Menschseins und der Entwicklung des Menschen, die ich für ganz wichtig erachte“, sagt er.
Rituale als Ordnungsinstanzen
Ebenfalls an der FU Berlin promovierte Mattig mit dem Thema „Rock und Pop als Ritual: Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft“ im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Kulturen des Performativen“. „Rituale sind ein wichtiges Thema, nicht nur in der Erziehung: Unsere gesamte Gesellschaft ist durch Rituale geprägt“, erklärt der Forscher. Dazu zählen gemeinsame Feiern und Feste genauso wie Inszenierungen bei offiziellen Akten. „Rituale schaffen und inszenieren auch Ordnung: Dadurch, dass bei einem Festakt an der Universität zuerst der Rektor spricht, wird zugleich seine Autorität und Position inszeniert.“
Für Jugendkulturen sind bestimmte Rituale wichtig, sie kennzeichnen wichtige Punkte in einem Lebenslauf: „Es gibt in unserer Gesellschaft auch eine Sehnsucht nach Initiation. Rausch, Tanz, Musik – all das sind wichtige Erfahrungen für Jugendliche und sollten nicht von vorneherein abgelehnt werden.“ Rituale können aber auch gesamtgesellschaftlich gefährlich werden, etwa, wenn sie zur Einprägung einer bestimmten Ideologie dienen. „Nun stellt sich die Frage, wie man mit Ritualen in der Pädagogik umgeht, wie man sie in die Erziehung einflicht. Rauscherfahrungen sind nicht zwingend schlecht für eine Biografie – aber soll man deshalb auf einer Klassenfahrt Alkohol erlauben?“, fragt Ruprecht Mattig. „Wichtig ist jedenfalls, dass sich Lehrerinnen und Lehrer ihrer eigenen Rituale und Inszenierungen bewusst werden. Wenn eine Schulklasse geschlossen zur Begrüßung ihrer Lehrerin oder ihres Lehrers aufstehen muss, ist allein das ein Ritual und eine Inszenierung der Position der Lehrkraft.“
Kulturelle Unterschiede
Dass Bildung und ihre Ziele auch sehr stark kulturellen Prägungen unterworfen sind, hat Ruprecht Mattig in Form einer vergleichenden Studie zu Erlebnispädagogik – also Unterrichtseinheiten außerhalb des Klassenzimmers – während eines dreieinhalbjährigen Forschungsaufenthalts in Kyoto in Japan erhoben. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Glückserfahrungen in der Erziehung hat er in Japan und Deutschland erlebnispädagogische Angebote untersucht und in qualitativen Interviews sowohl mit Schülerinnen und Schülern als auch mit deren Lehrerinnen und Lehrern darüber gesprochen. „Die große Gemeinsamkeit ist, dass alle, sowohl in Deutschland als auch in Japan, besonders dann Glück verspüren, wenn sie eine schwierige Aufgabe geschafft haben“, berichtet der Wissenschaftler. „Allerdings gibt es bedeutende Unterschiede beim pädagogischen Zweck der Angebote: In Deutschland geht es den Lehrerinnen und Lehrern wesentlich darum, den Kindern die Natur näher zu bringen. Die Natur als solche ist im deutschsprachigen Raum auch ausgesprochen positiv konnotiert“, sagt er. „In Japan ist das anders, ausgehend von einem anderen Bild der Natur. Die Kinder sollen hier auch nicht die Natur kennenlernen, sondern vor allem lernen, durchzuhalten und dabei nicht zu klagen.“ Der japanische Begriff ‚ganbaru’, für den es keine genaue Übersetzung gibt, beschreibt dieses würdevolle Durchstehen von Widrigkeiten.
Letztendlich unterscheidet sich japanische Pädagogik in vielen Hinsichten wesentlich von Vorstellungen, die mit dem deutschen Bildungsbegriff verbunden sind. „Das ist ein grundlegendes Problem: Wie fasst man eine andere, fremde Kultur in deutsche Worte, wenn die Sprache zugleich Teil der Kultur ist und die Kultur nur in der eigenen Sprache angemessen wiedergegeben werden kann? Das Problem zeigt sich insbesondere auch, wenn versucht wird, in Bezug auf fremde Kulturen mit dem deutschen Bildungsbegriff zu operieren“, sagt der Wissenschaftler.
Wilhelm von Humboldt
Derzeit arbeitet Ruprecht Mattig an seiner Habilitation zum preußischen Bildungsreformer Wilhelm von Humboldt. „Humboldt selbst war sehr interessiert an für ihn fremden Kulturen, er führte etwa umfangreiche Studien zum Baskenland durch“, erklärt Mattig. Diese Studien wurden bislang kaum wissenschaftlich aufgearbeitet – klar ist aber, dass Humboldts Studien zum Baskenland in seine preußische Bildungsreform eingeflossen sind. „Das ist eine spannende Ironie: Das hoch gebildete Preußen übernimmt Ideen aus dem ‚rohen’ Baskenland. Humboldt selbst hat übrigens nie gesagt, dass seine Reformen von dort inspiriert sind, aber eine genaue Rekonstruktion seiner Schriften kann das zeigen.“ Ein Punkt, den Humboldt übernimmt, ist etwa die Idee, wie Bildung Standesunterschiede überbrücken soll: Im Baskenland gibt es im Alltagsleben des anfangenden 19. Jahrhunderts kaum Standesunterschiede, Adelige sind in lebendigem Kontakt mit dem „einfachen Volk“. Davon profitieren beide Seiten: Die gebildeten Adeligen sind volksnäher als etwa in Preußen und durch den Diskurs ist auch das Volk gebildeter.