Vorgestellt: Zwischen Archiv und Wissenschaft
„Mit der Einrichtung meines Büros habe ich eine ganz besondere Verbindung zu meiner Arbeit. Die Möbel, auf denen wir hier sitzen, sind die restaurierten Originalmöbel von Ludwig von Ficker“, erzählt Ulrike Tanzer. Seit Oktober 2014 hat die Wissenschaftlerin eine Doppelfunktion inne, zum einen als Professorin und zum anderen als neue Leiterin des Brenner-Archivs. „Die Nachfolge von Sigurd Paul Scheichl sowie von Hannes Holzner anzutreten ist eine große Herausforderung für mich, auf die ich mich jedoch sehr freue“, so die Germanistin, die sich für ihre neue Position viel vorgenommen hat. „Besonders reizvoll an dieser Stelle ist für mich die Kombination von Brenner-Archiv, Wissenschaft und Literaturvermittlung. Es ist besonders schön, die Literaturvermittlung nicht nur auf der universitären Ebene, im Sinne von Lehre an der Germanistik, sondern darüber hinaus zu praktizieren. Die Verbindung von Archiv und Literaturwissenschaft war mir auch bisher immer ein Anliegen“, so die Professorin für Österreichische Literatur und Leiterin des Brenner-Archivs.
Ein traditionelles, modernes Archiv
„Das Brenner-Archiv ist eines der wichtigsten Literaturarchive und das nicht nur in Österreich, sondern auch darüber hinaus“, so Tanzer. Gegründet wurde das Archiv im Jahr 1964 durch einen Vertrag zwischen der Republik Österreich und Ludwig von Ficker, dem Herausgeber der Zeitschrift „Der Brenner“. Aus dieser Verbindung resultiert auch der Name des Archivs, das heuer, im Jahr 2014, sein fünfzigjähriges Bestehen feiert. Heute ist das Brenner-Archiv als literarisches und kulturhistorisches Forschungsinstitut und als Archiv fest verankert. Besonders ist die Verbindung und räumliche Nähe des Brenner-Archivs mit dem Literaturhaus am Inn, wodurch diese Kombination auch zu einem Modell für andere Institutionen in ganz Österreich wurde. „Diese Verbindung mit dem Literaturhaus ermöglicht es uns, über die Lesungen hinaus mit den Autorinnen und Autoren im Gespräch zu bleiben. Das ist ein wechselseitiger und fruchtbringender Prozess, der die Archivarbeit und die Wissenschaft enorm belebt. So entsteht eine Gesprächsbasis auf Augenhöhe zwischen den Autorinnen und Autoren, den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern und der Literatur“, freut sich Tanzer über neue Chancen an der Uni Innsbruck. Zum Nachlass von Ludwig von Ficker, der das Redaktionsarchiv seiner Zeitschrift an die Republik Österreich verkaufte, kamen im Lauf der Zeit über 240 weitere Sammlungen, Vor- und Nachlässe sowie tausende Fotos hinzu. „Das Brenner-Archiv ist besonders als Literaturarchiv für Tirol bedeutend. Entsprechend der überregionalen Ausrichtung des ‚Brenner’ macht auch die Bedeutung des Brenner-Archivs nicht am Brenner halt, sondern hat seine Geltung im gesamten Tiroler Kulturraum“, führt Tanzer aus. Der Wissenschaftlerin ist gerade in diesem Kontext der Zusammenhang von Tradition und Geschichte mit aktuellen Fragestellungen zu Literatur, Raum und Regionalität ein Anliegen. „Ich habe festgestellt, dass es hier in Tirol eine große Identifikation mit dem Brenner-Archiv gibt. Das sieht man auch daran, dass es einen wichtigen kulturellen Stellenwert hat und die Menschen auch außerhalb darüber diskutieren – dies konnte ich gleich zu Beginn meiner Tätigkeiten hier feststellen“, freut sich die Wissenschaftlerin.
Erinnerung an eine literarische Größe
Einen aktuellen Anlass für eine tiefe Verbundenheit der Tirolerinnen und Tiroler zum Brenner-Archiv sowie einen regionalen Bezug stellt das Jubiläum eines großen Literaten dar: „Heuer gedenken wir Georg Trakl, dessen Todestag sich im Jahr 2014 zum 100. Mal jährt. Was viele vielleicht nicht wissen ist, dass sein Grab im Jahr 1925 auf Wunsch von Ludwig von Ficker nach Mühlau bei Innsbruck verlegt wurde“, so die Leiterin des Archivs. Dass Trakl für die Einheimischen eine wichtige Persönlichkeit war, zeigt auch das rege Interesse an der Veranstaltung anlässlich des Jubiläums sowie die Tatsache, dass zahlreiche Menschen sein Grab in Mühlau besuchten. „Georg Trakl war gebürtiger Salzburger und hatte zu seiner Heimatstadt ein sehr ambivalentes Verhältnis. Seiner Verbindung zu Ludwig von Ficker und der Literaturzeitschrift ‚Der Brenner’ ist es letztendlich zu verdanken, dass er nach Innsbruck gekommen ist“, erklärt Tanzer. Zahlreiche Briefe zwischen Trakl und Ficker belegen deren enge Verbindung, die über den Austausch von literarischen Werken, wie beispielsweise das kurz vor Trakls Tod verfasste Gedicht „Grodek“, hinausging. Trakl sei ein gern gesehener Gast in der Mühlauer Villa von Ludwig von Ficker gewesen. „In Innsbruck hat Trakl einen Kreis von Gleichgesinnten getroffen, mit Hilfe derer sich seine Zeit hier sehr produktiv gestaltete, auch wenn seine Worte über Innsbruck nicht in ein Tourismusprospekt passen würden.“
Andenken und Veränderungen
Georg Trakl reiht sich ein in eine lange Liste von Autorinnen und Autoren, die ihre Eindrücke von Innsbruck und Tirol bei ihren Reisen durch das Land festgehalten haben. Dazu zählen unter anderen Johann Wolfgang von Goethe, Erich Kästner, Robert Musil, Joachim Ringelnatz, Virginia Woolf oder Voltaire. Ein Projekt, an dem an der Uni Innsbruck schon seit 2006 gearbeitet wird, ist die Literatur-Land-Karte Tirol. „Dieses Vorhaben ist ein digitales Projekt, in dem sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit den literarischen Hinterlassenschaften über Tirol befassen“, so Tanzer Diese Eindrücke von Schriftstellerinnen und Schriftstellern stehen in enger Verbindung mit Modernisierungen und Veränderungen in der literarischen Landschaft, aber auch im Alltag des Archivs. Der erst kürzlich begangene Gedenktag an Georg Trakl erinnert nicht nur an dessen Werke und sein Wirken vor hundert Jahren, sondern bietet auch Anlass, sich über die technischen Entwicklungen sowie jene der literarischen Landschaft Gedanken zu machen. „Die Zeit bleibt auch im Archiv nicht stehen. Auch dieses muss sich mit den medialen Umbrüchen auseinandersetzen. Ein Thema, das uns besonders beschäftigen wird, ist die digitale Archivierung und die Umsetzung digitaler Projekte. Die Literatur-Land-Karte Tirol ist nur ein Beispiel für innovative, digitale Projekte. Man kann nicht sagen, dass die Archivarbeit die gute, alte Zeit ist, an der die technische Entwicklung vorbeigeht. Wir werden auch weiterhin mit Veränderungen zu tun haben, besonders auch in Fragen den Konservierung und Archivierung“, weist Tanzer auf anstehende Neuerungen im Archivalltag hin. Der Expertin für Österreichische Literatur ist eine Anpassung an moderne mediale Gegebenheiten nicht nur in der Arbeit im Archiv ein Anliegen. Für ihre Zeit in Innsbruck hat sie besonders auch für die Lehre an der Germanistik ambitionierte Pläne: „Ein großes Interesse von mir ist auch die Leseforschung, mit der ich mich im Rahmen von Lehrveranstaltungen an der Uni Salzburg gemeinsam mit Studierenden auseinandergesetzt habe. Dabei interessieren mich Fragen der Lesesozialisation und Lesedidaktik ebenso wie das wachsende Interesse an E-Books und damit Untersuchungen zum möglicherweise geänderten Leseverhalten von Rezipientinnen und Rezipienten.“ Für ihre Zeit in Innsbruck hat sich die Wissenschaftlerin viel vorgenommen: „Ein großes Anliegen von mir ist es, den hohen Standard, den dieses Archiv hat, auch unter veränderten Rahmenbedingungen, gut fortsetzen zu können. Ich freue mich auch darauf, mit meinen Kolleginnen und Kollegen neue Projekte zu entwickeln und etwas Nachhaltiges auf die Beine zu stellen.“
Zur Person
Ulrike Tanzer, geboren 1967 in Steyr (OÖ), studierte nach ihrer Reifeprüfung am Öffentlichen Stiftsgymnasium der Benediktiner in Seitenstetten (NÖ) Deutsche Philologie und Anglistik/Amerikanistik (LA) an den Universitäten Wien und Salzburg (Sponsion 1992). Sie promovierte 1996 mit einer Arbeit über Frauenbilder im Werk Marie von Ebner-Eschenbachs (Stuttgart: Akademischer Verlag 1997). Nach mehrjähriger Unterrichtstätigkeit am Privatgymnasium der Ursulinen in Salzburg-Glasenbach war sie 1996–2008 Universitätsassistentin für Neuere deutsche Literatur und Koordinatorin für den Bereich Fachdidaktik am Institut für Germanistik der Universität Salzburg. 2008 erfolgte die Habilitation für das Fach „Neuere deutsche Literatur“ (Thema der Habilitationsschrift: Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011) und die Ernennung zur Ao. Universitätsprofessorin am FB Germanistik der Universität Salzburg.
Ulrike Tanzer nahm Kurzzeitdozenturen in Bologna, Bratislava, Canterbury, Debrecen und Genf wahr und lehrte als Gastprofessorin am Stiftungslehrstuhl für Mitteleuropäische Studien mit Schwerpunkt Österreich an der Universität Leiden (SS 2012) sowie an der Universität Klagenfurt (WS 2012/13). Sie ist Mitglied literarischer und wissenschaftlicher Vereinigungen (u. a. Vorstandsmitglied der Forschungs- und Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien und der Internationalen Nestroy-Gesellschaft).