Das O-Dorf ist besser als sein Ruf
Das Olympische Dorf in Innsbruck verdankt sein Entstehen den Olympischen Winterspielen 1964. In der ersten Bauphase wurden im Stadtteil Neuarzl, wo bis dahin rund 1300 Menschen wohnten, 689 neue Wohnungen errichtet; in einer zweiten Welle nach den Olympischen Winterspiele 1976 weitere 642 Wohnungen. „Heute wohnen im Stadtteil Neuarzl/O-Dorf rund 7000 Einwohner aus über 50 Nationen. Mich hat im Rahmen der Untersuchung, die ich mit sechs engagierten Studierenden durchgeführt habe, interessiert, wie die Einwohnerinnen und Einwohner ihre Lebensqualität im O-Dorf beurteilen“, erklärt Dr. Johannes Panhofer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Praktische Theologie. „Wir wollten auch herausfinden, ob das Fremdbild des O-Dorfes – der sich hartnäckig haltende schlechte Ruf – mit dem Selbstbild der Bewohner übereinstimmt und wie das Miteinander der verschiedenen Religionen und Kulturen dort funktioniert.“ Die Frage, warum ein Theologe eine Stadtteilanalyse durchführt, beantwortet Johannes Panhofer mit einem Zitat aus dem zweiten Vatikanischen Konzil: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Das Evangelium wird immer in die konkrete Lebensrealität der Menschen gesprochen, greift ihre Hoffnungen und Sorgen auf“, so Panhofer.
Bewegte Geschichte
Im Rahmen ihres Seminars verbrachten die Studierenden und ihr Lehrveranstaltungsleiter unterstützt von der Stadt Innsbruck und dem Verband Olympisches Dorf einige Tage im O-Dorf und sprachen mit der Bevölkerung. „Schon nach den ersten Gesprächen zeigte sich, dass die Einwohner die Lebensqualität im O-Dorf als überraschend gut einschätzen“, so Panhofer. „Der Stadtteil wird als sehr sauber und sicher wahrgenommen – was die Polizei durch einen Vergleich mit anderen Stadtteilen bestätigte. Die Infrastruktur ist hervorragend – es gibt Kindergärten, Schulen, Ärzte, Handwerker und Geschäfte in nächster Nähe. Auch das Vereinsleben in den Bereichen Kultur, Bildung und Sport ist reichhaltig wie in kaum einem anderen Stadtteil“, begründet Panhofer. Der nahe Inn mit seiner grünen Promenade wird von den Bewohnern als ausgezeichnetes Naherholungsgebiet geschätzt. „Wir hörten bei den Gesprächen sehr oft den Satz ‚Das O-Dorf ist besser als sein Ruf`“, so Panhofer. Auch wenn der schlechte Ruf heute mit dem hohen Anteil an sozial geförderten Wohnungen und Migranten in Verbindung gebracht wird, so liegt sein historischer Ursprung bei der Umsiedlung Einheimischer, nämlich der Bewohnern der sogenannten Bocksiedlung in der Reichenau. „Die Menschen in der Bocksiedlung wohnten in einfachsten Baracken und hatten anfangs natürlich Probleme, sich an die neuen Wohnungen zu gewöhnen. Da kam es auch schon vor, dass am Balkon ein Feuer angezündet wurde“, erklärt der Theologe. „Dieser Ruf hat sich überraschenderweise bis heute gehalten, vor allem bei Menschen, die wenig Kontakt zum O-Dorf haben. Dagegen genießt der überwiegende Teil der Menschen, die selbst im O-Dorf leben, die vorteilhaften Angebote dieses Stadtteils und ist mit der Lebensqualität hoch zufrieden.“
Ein Dorf in der Stadt
Obwohl das O-Dorf ein moderner Stadtteil ist, weist es in vielen Bereichen einen dörflichen Charakter auf: Es ist kleinräumig genug, dass man sich kennt und auf der Straße grüßt. Man trifft sich in den Vereinen am „centrum o-dorf“, das nach dem Vorbild eines Dorfplatzes gestaltet ist. Beobachtet man das rege Treiben auf diesem „Dorfplatz“, so lassen sich nicht nur verschiedene „Ströme“ sozialer Gruppen feststellen, wie die Kindergartenkinder, SchülerInnen, einkaufende Erwachsene, Senioren und Handwerker, die je nach Tageszeit das Bild prägen. „Besonders interessant waren für uns die verschiedenen Arten des Zusammentreffens nach unterschiedlichen kulturellen Mustern“, so Panhofer. „Während sich die Einheimischen eher kurz für einen Plausch und mit höherer Fluktuation in Zweier- und Dreiergruppen am Platz zusammenfinden, lassen sich Menschen mit Migrationshintergrund – in der Mehrzahl Frauen mit Kindern – auf den Bänken unter dem schützenden Dach nieder. Es herrscht Picknick-Atmosphäre – den gesamten Nachmittag bis Abend. Die Kinder spielen relativ selbständig daneben“, beschreibt Panhofer. „Es ist, als würde man einen anatolischen Dorfplatz zwischen die Hochhäuser verpflanzen.“ Die Untersuchung der TheologInnen zeigte zwei sehr unterschiedliche Vergemeinschaftungsformen: „Während sich die Einheimischen in Gruppen zu festgelegten Zeiten in den halböffentlichen Räumen der Vereinen treffen, um einem gemeinsamen Interesse (Musizieren, Sport, …) nachzugehen, treffen sich Menschen mit Migrationshintergrund eher spontan und unverbindlich am zentralen öffentlichen Ort ohne inhaltliche Vorgabe. „Wenn nun eine so große Gruppe den zentralen öffentlichen Platz so stark bevölkert, hat das freilich auch einen gewissen demonstrativen Charakter“, so Panhofer. „Mit dieser starken Präsenz tun sich dann einige – vor allem aus der älteren Generation – nicht leicht.“
Sicherheit in der Gruppe
Laut Panhofer ist dieses Verhalten verständlich: „Die Menschen suchen die Sicherheit ihrer eigenen kulturellen Gruppe, gerade inmitten einer oft als fremd erlebten Gesellschaft“, so der Theologe. Dies zeige sich auch im Jugendzentrum. Besuchten anfangs sowohl Einheimische als auch Jugendliche mit Migrationshintergrund das Jugendtreff, teilten sich diese beiden Gruppen zunehmend nach kultureller Zugehörigkeit auf. „Während Migranten nun das Jugendzentrum im O-Dorf für sich haben, sind Einheimische in das Jugendzentrum St. Paulus ausgewichen“, beschreibt Panhofer. „Es lässt sich etwas beobachten, was man als Spiegelphänomen beschreiben könnte: Jugendliche mit Migrationshintergrund erleben in unserer Gesellschaft manche Benachteiligungen, sie müssen um ihren Platz kämpfen. Durch die Sicherheit der eigenen großen Gruppe dreht sich die Dynamik um und sie können Raum für sich behaupten“, erklärt Panhofer. „Insgesamt erlebten wir im O-Dorf weder ein Miteinander der verschiedenen Kulturen noch ein Gegeneinander, sondern eher ein friedliches Nebeneinander – der Wunsch nach einer Intensivierung der interkulturellen Begegnungen wurde uns gegenüber allerdings oft geäußert“, so der Theologe.
Dieser Artikel ist in der Juni-Ausgabe des Magazins „wissenswert“ erschienen. Eine digitale Version ist hier zu finden (PDF).