Forscher messen Pauling-Entropie

Linus Paulings Traum wird wahr: Chemiker um Thomas Lörting haben erstmals die vom zweifachen Nobelpreisträger theoretisch bestimmteNullpunktsentropie von Eiskristallen im Labor experimentell gemessen. Die Wissenschaftler der Universität Innsbruck und der TU Dortmund berichten darüber in der Fachzeitschrift Nature Communications.
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Im Jahr 1935 hat Linus Pauling die Nullpunktsentropie von Eiskristallen theoretisch bestimmt. (Foto: Ava Helen and Linus Pauling Papers, Oregon State University Libraries)

Gewöhnliches Eis wie auf Gletschern oder im Gefrierschrank besteht aus frustrierten Eiskristallen. Das heißt, nicht alle Atome sitzen an den nach dem Strukturprinzip vorgesehenen Gitterplätzen der Kristalle. Konkret sind in gewöhnlichem Eis zwar die Sauerstoffatome geordnet, die Wasserstoffatome hingegen bleiben weitgehend ungeordnet. Der US-amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling wollte bereits im vergangenen Jahrhundert wissen, wie sich dieser Zustand von dem einer perfekt geordneten Kristallstruktur unterscheidet. Als Maß dafür diente ihm die Entropie, eine fundamentale thermodynamische Zustandsgröße, die die Unordnung in einem System beschreibt. Mit statistischen Methoden ermittelte Pauling 1935 eine Entropie von 3,41 J mol-1 K-1 für gewöhnliches Eis am Nullpunkt der Temperaturskala. Im perfekt geordneten Eis würde hingegen die Nullpunktsentropie verschwinden. Bis dato ist es jedoch noch niemandem gelungen, gewöhnliches Eis in diesen völlig geordneten Zustand überzuführen. Für eine Hochdruckform von Eis ist es nun aber gelungen, den Übergang von einem vollständig ungeordneten Netzwerk von Wasserstoffatomen in ein vollständig geordnetes zu erreichen.

Abkühlzeit entscheidend

Seit Paulings Zeiten wurden viele neue Formen von Eis entdeckt. „Wir kennen heute 17 verschiedene Phasen von kristallinem Eis. Einige davon sind geordnet, andere ungeordnet“, erzählt Thomas Lörting vom Institut für Physikalische Chemie, der gemeinsam mit seinem Team an der Universität Innsbruck und Forschern um Roland Böhmer von der TU Dortmund diese unterschiedlichen Eisformen untersucht.
Um das vollständige Verschwinden von Paulings Nullpunktsentropie zu messen, stellen die Wissenschaftler unter sehr hohem Druck (8.000 bar) völlig ungeordnetes Eis XII her und kühlen es in einer eigens entwickelten Vorrichtung solange ab, bis vollständig geordnetes Eis XIV entsteht. Mittels Kalorimetrie bestimmen sie direkt die abgegebene Wärme und können so erstmals die Pauling-Entropie vollständig regenerieren. Die Ergebnisse hängen dabei stark von der Geschwindigkeit des Abkühlens ab. „Erst unter einem Schwellwert von 15 Grad pro Minute Abkühlung messen wir den von Linus Pauling vorhergesagten Maximalwert von 3,41 J mol-1 K-1 “, erzählt Thomas Lörting. Das Forschungsteam berichtet darüber nun in der Fachzeitschrift Nature Communications.

Hilfsmittel notwendig

Neben dem langsamen Abkühlen unter Druck ist aber noch ein anderer Trick notwendig, um die Wasserstoffatome bei minus 170 Grad Celsius beweglich zu halten. Diese Beweglichkeit ist die Grundvoraussetzung dafür, dass der geordnete Zustand erreicht werden kann und nicht einfach die Moleküle im ungeordneten Zustand bewegungslos werden. Die Chemiker dotieren das Eis mit einem Katalysator, der in die Kristallstruktur eingebaut wird. Dafür wurden zehn verschiedene Moleküle getestet, und eines – nämlich Chlorwasserstoff – erfüllte schließlich den Zweck. „Mithilfe von dielektrischer Spektroskopie konnten wir feststellen, dass die Mobilität der Wasserstoffatome im Kristall mit diesem Katalysator um beinahe das Millionenfache ansteigt. Dazu fungiert Chlorwasserstoff als Keimzelle für den Ordnungsprozess“, erläutert Thomas Lörting. „Dabei reicht ein Chlorwasserstoffmolekül pro zehn Millionen Wassermolekülen aus.“ Alle anderen getesteten Dotierstoffe haben hingegen kaum einen Einfluss auf die Beweglichkeit. Warum das so ist, bleibt weiterhin ein Rätsel, das es in Zukunft zu lösen gilt.

Die Arbeit ist ein Ergebnis der Forschungsplattform für Material- und Nanowissenschaften (Advanced Materials) an der Universität Innsbruck. Finanziell unterstützt wurden die Forscherinnen und Forscher vom österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG.