Lieber besiedelte als unbesiedelte Alpen
Wo sich Fuchs und Hase „Gute Nacht“ sagen, wollte ab der Mitte des 20. Jahrhunderts kaum jemand mehr leben: Junge Menschen verließen aufgrund fehlender Perspektiven ihre Bergdörfer in den Alpen und zogen in die Städte. Dies führte zu einer regelrechten Entvölkerung vieler Gebiete und gefährdet bis heute den Erhalt ethnischer Minderheiten, ihrer Sprache und Kultur. Seit einigen Jahren kommt es jedoch zu einer Neubesiedelung, und selbst entlegene Gemeinden sind wieder begehrt: ein Phänomen, das Ernst Steinicke und Roland Löffler von ihren Forschungen in der kalifornischen Sierra Nevada schon länger kennen. Dort zieht es seit Jahrzehnten junge, weiße, wohlhabende und gebildete Städter ins Hochgebirge, viele haben dort neben ihrem Stadtwohnsitz, eine „rural residence“. Im Amerikanischen wird dieses multilokale Phänomen als „Amenity Migration“bezeichnet, zu verstehen ist darunter eine Verschiebung der Wohnsitzpräferenz vom urbanen Raum in abgelegene, aber attraktive ländliche Regionen. Zurück in den Alpen haben Steinicke und Löffler gemeinsam mit Judith Walder, Wolfgang Warmuth und Michael Beismann in drei FWF-Projekten – das Aktuelle läuft noch bis Februar 2016 – untersucht, inwieweit Amenity Migration im Alpenraum eine Rolle spielt.
Zuwanderungsboom von West nach Ost
„Auch in den Alpen gibt es Potenzial für Amenity Migration“, sagt Ernst Steinicke und betont immer wieder, dass die Alpen – abgesehen vom Osten Österreichs – heute definitiv kein Entvölkerungsgebiet mehr sind. „In den italienischen Alpen, die Jahrzehnte lang als klassischer Entleerungsraum galten, haben wir in manchen Gebieten eine positive Migrationsbilanz von über 10 Prozent.“ So ziehen seit der Jahrtausendwende jährlich im Schnitt rund 3.000 Personen allein in periphere Berggemeinden des italienischen Alpenraums zu – Städte und größere Gemeinden sind von der Berechnung ausgenommen.
Der Trend zur Neubesiedlung hat in den französischen Westalpen bereits Ende der 1960er Jahre begonnen, sich langsam nach Osten ausgebreitet und inzwischen auch Friaul und Slowenien erreicht. Hier existiert jedoch nach wie vor ein Nebeneinander von Zu- und Abwanderung. „Wir verzeichnen trotz Zuwanderung geringe Verluste, weil die autochthone Bevölkerung aufgrund jahrzehntelanger Abwanderung überaltert ist. Die Zuwanderer können (noch) nicht ausgleichen, dass sich die Ansässigen nicht mehr vermehren“, erklärt Steinicke.
Demographisches Problemgebiet ist und bleibt allerdings der alpine Osten Österreichs. Zurückzuführen ist das Fehlen jeglichen Amenity-Potenzials laut Steinicke und Team auf eine Verknüpfung mehrerer Ungunstfaktoren: Dazu zählen eine im Vergleich zum Hochgebirge geringere landschaftliche Attraktivität, Erschließungsdefizite, Großgrundbesitz, viel Forstwirtschaft, Funktionsverluste der Gemeinden und das damit verbundene Negativ-Image. „Das wird sich auch mittelfristig nicht ändern.“
New Highlander
Neben der statistischen Darstellung des demographischen Wandels sind Steinicke und sein Team auch der Frage nachgegangen, wer die neuen Bergbewohner sind – die Forscher verwenden gerne den englischen Begriff „New Highlander“ – und wie sich ihre Anwesenheit auf die verbliebenen Einheimischen, ihre Sprache und Kultur auswirkt. Umfassendere Untersuchungen dazu haben die Geographen wiederum für die italienischen Alpen gemacht, wo die New Highlander eine weit weniger homogene Gruppe sind als in der Sierra Nevada. „Wir finden Pensionisten, junge Pärchen, Familien, aber auch Immigranten aus völlig anderen Kulturkreisen“, beschreibt Ernst Steinicke die neuen Bergbewohner, die größtenteils dem Mittelstand zuzuordnen sind.
Forschungslücke geschlossen
Besonderes Augenmerk legen die Wissenschaftler in ihrem aktuellen FWF-Projekt auf die Auswirkungen der Zuwanderung auf autochthone ethno-linguistische Minderheiten. Sie schließen damit eine bemerkenswerte Forschungslücke: Obwohl bekannt ist, dass abgelegene Gebirgsräume günstig für den Erhalt von Sprach-Minderheiten sind, waren diese für den Alpenraum bis dato weder kartographisch erfasst noch gab es Untersuchungen im Kontext demographischer Wandlungsprozesse. Insgesamt elf verschiedene (Minderheiten-)Sprachen sind im Alpenraum beheimatet: Slowenisch, Italienisch, Deutsch (mit Walserdeutsch), Kroatisch, Ungarisch, Ladinisch, Rätoromanisch, Friulanisch, Okzitanisch, Frankoprovenzalisch und Französisch. Neben den sogenannten nationalen Minderheiten (z.B. Slowenen in Österreich oder Südtiroler in Italien) unterscheiden die Wissenschaftler weiters nach regionalen ethnolinguistischen Minderheiten, zu denen die Friulaner, Dolomitenladiner und Rätoromanen zählen, ferner die deutschen Sprachinseln in den Westalpen, z.B. die Walsergemeinden im Aostatal, Piemont oder Tessin, und in den Ostalpen (z.B. Sappada, Sauris oder Timau). Die regionalen Minderheiten nehmen einen besonderen Status ein, weil sie nur in einem Staat beziehungsweise Kerngebiet leben und hinsichtlich ihres Erhalts letztendlich auf sich selbst gestellt sind.
Sprachminderheiten und Wandel
Vom Verschwinden bedroht sind diese autochthonen ethnolinguistischen Minderheiten am stärksten durch Abwanderung und die dadurch bedingte Überalterung. „Wenn nur mehr alte Menschen eine Sprache sprechen, die jungen aber nicht mehr, so stirbt sie aus“, sagt Steinicke. Nicht zwingend gilt dies allerdings für Brauchtum, Esskultur oder Architektur. Welchen Einfluss in diesem Zusammenhang die Neuzuwanderer haben, lässt sich nur differenziert beantworten: Wenngleich die weiter fortschreitende sprachliche Assimilierung durch sie unbestritten ist, möchte Ernst Steinicke auch die Chancen einer Neubesiedelung hervorheben: „Wir haben herausgefunden, dass sich die New Highlander sehr wohl für ihre neue, ethnisch-fremde, Umgebung interessieren, an den kulturellen Ereignissen teilhaben und deren Erhalt sogar aktiv unterstützen.“ Darüber hinaus revitalisieren sie die Infrastruktur, das Schulwesen oder auch die historische Bausubstanz. „In Gressoney, einer walserdeutschen Sprachinsel im Aostatal, leistet eine zugewanderte Südtirolerin einen entscheidenden Beitrag im Bereich Bildung und Kultur.“ Das ist laut Steinicke eines von vielen Beispielen dafür, dass im kulturellem Bereich, aber auch im Schulwesen die Neuen besonders engagiert sind. – Im Übrigen begrüßen Ernst Steinicke und sein Team ganz allgemein den Zuwanderungsboom. „Besiedelte Alpen sind in jedem Fall besser als unbesiedelte“, sind sich die Forscher einig.