Überzeugt vom Krieg
Bis heute über 30.000 getötete irakische Soldaten, 4.800 tote Militärangehörige der „Koalition der Willigen“, hunderttausende tote Zivilisten – die Schätzungen gehen hier von Opferzahlen von rund 115.000 bis zu 1,4 Millionen aus: Der offiziell nur knapp zwei Monate andauernde Krieg im Jahr 2003 und die darauf folgende Besatzung des Iraks bis 2011 waren für die USA und ihre Verbündeten verlustreich und für die Region verheerend. Eines der erklärten Ziele der US-Regierung, nämlich mit dem Krieg den Terrorismus einzudämmen, ist klar gescheitert. Und nicht erst seit dem ersten Kriegstag gibt es Spekulationen und Verschwörungstheorien, welche Beweggründe die Vereinigten Staaten genau hatten, den Irak anzugreifen – besonders, weil relativ bald klar war, dass der Irak keine nennenswerten Massenvernichtungswaffen besitzt. Eine beliebte Deutung: Ganz unabhängig von 9/11 sei der Krieg schon lange geplant und das wahre Ziel seien die irakischen Ölquellen gewesen. Ass.-Prof. Dr. Franz Eder vom Institut für Politikwissenschaft wollte das in seinem Habilitationsprojekt genauer wissen: „Diese Erklärungen dominieren immer noch die Debatte, aber gleichzeitig ist es schwierig, sie zu bestätigen. Primärquellen, also Protokolle von Sitzungen des Kabinetts von Präsident Bush oder des Nationalen Sicherheitsrates der USA, sind geheim, so sie überhaupt existieren, also musste ich andere Mittel und Wege finden, den wahren Beweggründen näher zu kommen“, erklärt er.
Analyse von Interviews und Reden
Der Politikwissenschaftler hat deshalb versucht, den Entscheidungsprozess innerhalb der Bush-Regierung, der letztlich zum Irakkrieg geführt hat, begreifbar zu machen – sowohl methodisch als auch theoretisch. Grundlage ist ein Analysemodell aus der Außenpolitikforschung, das staatliches Handeln als das Ergebnis individueller und gruppendynamischer Prozesse begreift. „Ich habe mir die Wahrnehmung von Einzelpersonen aus dem Bush-Kabinett und weitere wichtige Akteure im Vorfeld des Irakkriegs angesehen“, sagt Franz Eder. Dazu gibt es zwei klassische Quellen: Einmal Enthüllungen von Journalisten, deren Bücher in den vergangenen Jahren erschienen sind, andererseits autorisierte Biografien von Akteuren aus dieser Zeit. „Das Problem besonders mit den Enthüllungsbüchern ist, dass sie sich oft in wichtigen Punkten widersprechen und sich permanent gegenseitig zitieren – so gibt es für viele Punkte nur eine einzige Quelle, die nur der Autor selber kennt und die für die Außenwelt weder überprüfbar noch nachvollziehbar ist. Dazu kommt, dass die Biografien den Enthüllungsjournalisten in vielen zentralen Punkten widersprechen.“
Aus diesen Gründen greift der Forscher auf neue, noch nicht dahingehend untersuchte Quellen zurück: Insgesamt 3.090 Interviews und Reden mit in Summe 7,2 Millionen Wörtern von Präsident George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, dem stellvertretenden Verteidigungsminister Paul Wolfowitz, Außenminister Colin Powell, dem stellvertretenden Außenminister Richard Armitage, Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice und CIA-Chef George Tenet wurden auf bestimmte Schlüsselwörter durchsucht und untersucht, vom Amtsantritt der Bush-Regierung im Januar 2001 bis einschließlich Dezember 2004. Diese Personen bilden zugleich den inneren Kreis der mit Sicherheitsfragen betrauten Akteure der Bush-Regierung. „Diese Daten habe ich auf zwei Punkte hin untersucht: Wie nimmt der jeweilige Akteur bzw. die Akteurin die Welt wahr – tendenziell als eine feindselige Umgebung oder als ein kooperatives Umfeld? Und davon ausgehend: Welche Strategie ist im Umgang mit dieser Welt die richtige?“, erklärt Franz Eder. Ein wenig überraschendes, aber nun eindeutig nachweisbares Ergebnis: Die Terroranschläge vom 11. September 2001 hatten einen nachhaltigen Einfluss auf alle Akteure, die ab diesem Zeitpunkt die Welt als bedrohlicher beschreiben und in Reden und Interviews deutlicher für eine konfrontative Strategie gegenüber dem Irak eintreten. „Eine kleine Ausnahme bildet hier Außenminister Powell. Aber das mag auch mit seiner Rolle als Außenminister zusammenhängen – eine Rolle, in der er schon per Definition mehr auf Diplomatie setzen muss als andere. Aber auch bei ihm gibt es eine erkennbare Verdüsterung der Weltsicht, auch wenn er auch nach 9/11 immer noch auf Kooperation setzt.“ Vor 9/11 ist aus diesen Daten auch kein Konfliktkurs gegenüber dem Irak erkennbar, von keinem der Akteure.
Untersuchung von Gruppendynamiken
Der Politikwissenschaftler geht in seiner Untersuchung noch einen Schritt weiter: Um die Interessen der gesamten Gruppe genauer zu erfassen, hat er für jedes Quartal des Untersuchungszeitraums pro Akteur je ein Interview und eine Rede ausgewählt und in einer Diskursnetzwerkanalyse qualitativ untersucht, in Summe 227 Reden und Interviews. „Vereinfacht gesagt geht es hier darum, einerseits darzustellen, welche Akteure zu welchem Zeitpunkt welche Standpunkte vertreten und andererseits dadurch zu zeigen, welchen anderen Akteuren sie mit ihren Ansichten nahestehen. Um sich in einem Diskurs durchzusetzen, braucht man eine Mehrheit hinter sich“, sagt Franz Eder. Zwei Diskursebenen stellt der Forscher dar: Einerseits jene über den Bedrohungsstatus des Iraks, andererseits die daraus folgenden politischen Aktionen. „Wie schon die quantitative Inhaltsanalyse zeigt auch diese mit 9/11 in beiden Diskursen eine Zäsur: Vor 9/11 gibt es keinen Konsens, welche und ob überhaupt Gefahr vom Irak ausgeht – die untersuchten Akteure vertreten keinen einheitlichen Standpunkt. Das schließt relativ gesichert aus, dass Aktionen gegen den Irak von langer Hand geplant waren. Nach 9/11 ist man sich einig: Der Irak ist gefährlich, ein Schurkenstaat, das sollte sich auch bis zum Ende meiner Untersuchung nicht mehr ändern.“ Beim zweiten Diskurs, jenem über die Aktionen, die die USA setzen müssen, verhält es sich umgekehrt: „Beim Politikdiskurs gibt es vor 9/11 Konsens, dass auf den Irak mittels Sanktionen Druck aufgebaut werden muss, wie es schon seit dem zweiten Golfkrieg der Fall und auch von UN-Beschlüssen gedeckt war. Nach 9/11 verliert dieser Konsens an Anhängern. Außer Colin Powell glaubt niemand mehr an die Sanktionen, aber eine Alternative setzt sich zuerst ebenfalls nicht durch. Erst im zweiten Quartal 2002 kommt ein Krieg als Möglichkeit auf den Tisch, ab August/September 2002 sieht die Gruppe Krieg mit dem Irak als unvermeidbar an und auch Colin Powell vertritt plötzlich diesen Konsens.“
Als treibende Akteure in der Diskussion macht Franz Eder Außenminister Powell und Verteidigungsminister Rumsfeld aus. „Hier ist der sogenannte Betweenness-Centrality-Indikator wichtig. Dieser Indikator gibt Auskunft darüber, wie zentral und damit einflussreich ein Akteur ist, weil er auf vielen kürzesten Wegen zwischen allen anderen Akteuren positioniert ist und damit soziale Macht ausüben kann. In den Diskursdiagrammen zeigt sich, dass Colin Powell und Donald Rumsfeld die höchsten Werte bei diesem Indikator aufweisen. Kann Colin Powell zumindest bis 2002 Präsident Bush noch überzeugen, auf ein Sanktionsregime zu setzen, so setzt sich spätestens ab da ein Diskurs durch, den Rumsfeld zentral vertritt: Nichtstun und Abwarten werden als zu riskant empfunden, der Krieg damit zur unvermeidbaren Option.“
Überzeugt von Aktionen
Neben der Verschwörungstheorie, der Krieg sei von langer Hand geplant gewesen, kann Franz Eder auch jene der bewusst vorgetäuschten Motive widerlegen: „Die Diskursanalyse zeigt sehr klar: Die Bush-Regierung war überzeugt davon, dass vom Irak eine existentielle Gefahr ausgeht und dass der Schutz der Vereinigten Staaten nur durch einen Sturz Saddam Husseins gewährleistet werden kann. Das soll keine Verteidigung dieser Entscheidung sein: Es kam offensichtlich zu Fehleinschätzungen und Fakten wurden falsch interpretiert – aber ein bewusstes Belügen der Öffentlichkeit, das geben diese Daten nicht her.“ Für sein Habilitationsprojekt wurde der Politikwissenschaftler mit Forschungsfördermitteln aus der Nachwuchsförderung unterstützt.