Essstörungen: Eine europäische Perspektive
Prof. Günther Rathner als Psychotherapeut an der Klinik für Medizinische Psychologie und Psychotherapie der Medizinuni Innsbruck, Präsident der österreichischen Gesellschaft für Essstörungen (ÖGES) und Obmann des Netzwerks Essstörungen war heuer als wissenschaftlicher Leiter und auch organisatorisch sehr gefordert. Der jährliche Kongress Essstörungen ist die größte derartige Veranstaltung im deutschsprachigen Raum und der ECED Kongress bringt um die 200 Fachleute aus allen Teilen Europas und darüber hinaus zusammen.
Achtsamkeit gegenüber dem Körper
Der erste Tag des deutschsprachigen Kongresses war körperorientierten Therapien gewidmet und gab ExpertInnen aus Deutschland, der Schweiz und Belgien Gelegenheit, aus ihrer Praxis zu berichten. Ein zentraler Punkt bei allen derartigen Therapieformen ist die Körperwahrnehmung und die Achtsamkeit im Umgang mit Ernährung und körpereigenen Empfindungen. Die meisten Patientinnen haben ein sehr negativ besetztes Bild ihres Körpers. Die körperorientierte Therapie versucht mit verschiedenen Interventionen und Bewegungsprogrammen diese Wahrnehmung „aufzuweichen“ und die Patientinnen zu einer neuen Selbstwahrnehmung zu führen. Angewandt werden diese Methoden übrigens sowohl bei Anorexia nervosa als auch bei Bulimia (Ess-Brechsucht), Binge Eating Disorder (Störung mit Essanfällen), aber auch bei Adipositas (Fettleibigkeit), die keine psychische Störung, also auch keine Essstörung ist.
Ein Kongress für alle, die mit Essstörungen zu tun haben: Betroffene, Angehörige, ExpertInnen
Der Kongress richtet sich bewusst an erfahrene ebenso wie noch in Ausbildung befindliche TherapeutInnen, PsychologInnen, MedizinerInnen, ErnährungsspezialistInnen, an SozialarbeiterInnen, LehrerInnen, PatientInnen und Angehörige. Daher gab es insgesamt 19 Praxis-Workshops, in denen VertreterInnen einzelner Kliniken und Zentren nicht nur über ihre Methoden referierten, sondern sie auch anhand praktischer Übungen vorstellten. Wissenschaftliche Beiträge belegten die Wirkung körperorientierter Therapien und führten zu lebhaften Diskussionen unter den Fachleuten. So unterschiedlich die Methoden im Einzelnen auch sein mögen, über einen zentralen Punkt im Umgang mit Essgestörten (meist Mädchen und jungen Frauen) herrschte Einigkeit: sie brauchen sowohl Unterstützung als auch Selbständigkeit und Eigenverantwortung – ein schwieriger Spagat für das gesamte Umfeld der Betroffenen.
Parallelsitzungen zu bestimmten Themen oder Blickwinkeln, etwa dem der Betroffenen und ihrer Angehörigen oder zum Körper im Bezug auf Frauen- und Geschlechterrolle sprachen ein breites Publikum an und brachten auch gesellschaftliche Aspekte zur Sprache. Untersuchungen über die Häufigkeit von Essstörungen und über das Essverhalten von Kindern aller Gewichtsklassen oder die Körperzufriedenheit von nicht klinisch essgestörten Frauen zeigten das erschreckende Ausmaß der Sorge um Gewicht und Körperform in unserer gewichtsphobischen Gesellschaft.
The big picture: ECED Innsbruck 2005
Der britische Soziologe Chris Shilling zeigte zum Auftakt des ECED Innsbruck 2005 meetings, wie sich der gesellschaftliche Stellenwert und die Regeln des Essens verändert haben. Er ortet zwei Entwicklungen, die Essstörungen begünstigen. Eine ist die fortschreitende Individualisierung, weg vom gemeinsamen Essen, hin zur individuellen Auswahl in der Nahrungsaufnahme. Die andere ist eine veränderte Einstellung zum Körper. Galt er bis ins frühe 20. Jahrhundert weitgehend als gegeben, so gilt er heute als etwas individuell Formbares, von dem nicht nur ein schlankes Erscheinungsbild, sondern auch Fitness und jederzeitige Verfügbarkeit verlangt werden. Der Körper wird zum Schlachtfeld (im wahrsten Sinne des Wortes) für die Lösung persönlicher und sozialer Probleme. Wir sollten uns von der Illusion der unendlichen medizinisch-technologischen Formbarkeit des menschlichen Körpers und der Verleugnung des Alterns und des Todes verabschieden.
Die ECED Konferenz war – anders als übliche wissenschaftliche Kongresse - um drei Debatten zu provokanten Statements herum angeordnet, die für regen Austausch unter den Delegierten aus 28 Ländern, darunter fast alle europäischen Länder, Israel, Japan, Neuseeland, Kanada und den USA sorgten. Bei den wissenschaftlichen Beiträgen ging es neben den bereits angeführten Themen auch um Komorbidität und Persönlichkeitsstörungen, sowie um den Stellenwert der Familie und die Erfolgsaussichten unterschiedlicher Therapieansätze inklusive Therapie über das Internet. Erstmals auf einem ECED Meeting wurden Organisationen für Betroffene und Angehörige in verschiedenen europäischen Ländern, über 12 europäische wissenschaftliche Gesellschaften für Essstörungen sowie die sieben derzeit in Europa existierenden Essstörungs-Spezialausbildungen für Professionals vorgestellt.
Um die Qualität der Poster-Beiträge zu würdigen. wurde erstmals ein Posterwettbewerb abgehalten. In kürzester Form konnten hier wissenschaftliche Arbeiten vorgestellt werden. Per Voting unter den Konferenzteilnehmern wurden Best Poster Awards vergeben. Der erste Preis ging an ein ungarisches Team von der Semmelweis Universität in Budapest, den zweiten Preis teilten sich Martin Kumnig und Dieter Frank vom Institut für Psychologie der LFU Innsbruck mit einem schwedischen Team vom Königin Silvia Kinderspital in Göteborg.
Insgesamt besuchten um die 450 Personen die beiden Kongresse. Der jährliche Internationale Kongress Essstörungen findet nächsten Herbst wieder in Tirol statt.