Experimentelle Literatur in Russland und im deutschsprachigen Raum
Im Jänner hielt Dr. Juliana Kaminskaja aus St. Petersburg eine Lehrveranstaltung in Innsbruck über "Visuelle Poesie in der deutschen und in der russischen Literatur". Bei dieser Kunstform sind das Visuelle und das Verbale eng miteinander verknüpft und bilden nur gemeinsam eine vollständige Aussage.
Visuelle Poesie ist - im Grenzbereich zwischen Literatur und bildender Kunst - ein poetisches Verfahren der experimentellen Literatur, die etablierte Sprachkonventionen hinterfragt und die Sprache als Material ästhetisch aufgreift. Die Lehrveranstaltung von Dr. Juliana Kaminskaja wurde am Institut für Slawistik gemeinsam mit dem Institut für deutsche Sprache, Literatur und Literaturkritik im Rahmen der Partnerschaft mit der philologischen Fakultät der Universität St. Petersburg durchgeführt und fand bei den Studierenden beider Studienrichtungen großen Anklang, nicht zuletzt weil sich viele interdisziplinäre Ausblicke eröffneten. Die Koordinatoren der Partnerschaft sind in St. Petersburg der Leiter der Österreich-Bibliothek, Dr. Alexandr Belobratow, und in Innsbruck der Vorstand des Forschungsinstituts Brenner-Archiv, Prof. Dr. Johann Holzner. Markus Köhle und Günter Vallaster führten für den iPoint mit Dr. Kaminskaja das folgende Interview.
Dr. Kaminskaja, wie kam Ihr Innsbruck-Engagement zustande?
Meine Einladung an die Universität Innsbruck verdanke ich Prof. Dr. Christine Engel vom Institut für Slawistik. Wir haben uns in Zürich kennen gelernt, wo ich im Slavischen Seminar, geleitet von Prof. Dr. Jochen-Ulrich Peters, immer wieder einmal Vorträge zu zeitgenössischer Literatur halte. Dank dieses Kontaktes durfte ich mich jetzt in Innsbruck am Institut für Slawistik wie zuhause fühlen, wofür ich allen seinen MitarbeiterInnen sehr dankbar bin.
Das Thema der Veranstaltung ergab sich aus meiner Arbeit an einem inzwischen schon erschienenen Artikel für die Zeitschrift "Poetica", welcher der deutsch- und russischsprachigen visuellen Poesie gewidmet ist. Ich finde diesen Forschungsbereich ebenso wichtig wie faszinierend und war sehr froh, hierzu Vorlesungen und Seminare halten zu dürfen.
Welchen Status hat die experimentelle Literatur in Russland, auch im Vergleich mit dem deutschsprachigen Raum?
Seit den 1980er Jahren darf man guten Gewissens vom ständig zunehmenden Gewicht russischsprachiger experimenteller Literatur sprechen. Wenn man die Tradition der illegalen Literatur einbezieht, so kann man die Anfänge dieser Entwicklung spätestens in den 1960er Jahren ausmachen. Jedenfalls ist heutzutage die experimentelle Literatur für das kulturelle Leben Russlands sehr kennzeichnend.
Im Hinblick auf die Verbreitung der experimentellen Literatur ist die Situation in Russland durchaus vergleichbar mit der im deutschsprachigen Raum. Dies ist sicherlich mit den international wirkenden Faktoren verbunden, die die ganze heutige Kulturwelt prägen und sich am ehesten vom mediengeschichtlichen Standpunkt begreifen lassen. Auch das heute noch bemerkbare Nachwirken der konkretistischen Tradition der 60er und 70er Jahre erlaubt wichtige Parallelen in der russisch- und deutschsprachigen Literatur zu entdecken.
Man muss aber keine große Kennerin der russischen Realität sein, um zu bemerken, dass sich das jetzige Russland von den deutschsprachigen Ländern in wesentlichen Aspekten sehr unterscheidet. Auch Unterschiede in der literarischen Situation sind auffällig. Desto faszinierender erscheinen dann die Ähnlichkeiten, die sich manchmal sogar eben aus diesen Unterschieden auf komplizierten Wegen ergeben.
So kann zum Beispiel als eine charakteristische Eigenschaft der heutigen russischen Literatur die Tendenz gelten, sich in besonderem Maße auf die Tradition der russischen Avantgarde aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu stützen. Dadurch versucht man über die sowjetische Zeit hinweg eine Brücke in die Zeit vor und kurz nach der Revolution zu schlagen, um die Linie wiederherzustellen, die man in den sowjetischen Zeiten als unterbrochen empfunden hat. Doch wohin gelangen dadurch heutige ExperimentalistInnen? An Chlebnikow, Krutschjonych, Kandinski, Malewitsch, also an die Künstler, deren Schaffen seinerzeit eine große Wirkung auf die westeuropäische und u.a. deutschsprachige Kultur ausgeübt hat und auch bis heute als ein wichtiges Element der experimentellen "Tradition" funktioniert. Dadurch ergeben sich wieder heutige Ähnlichkeiten der russisch- und deutschsprachigen experimentellen Literatur.
Solche Kurven sind ein höchst interessanter Stoff für die Forschung, doch da treten leider Status-Unterschiede der experimenteller Literatur im deutsch- und russischsprachigen Raum ans Licht. Die heutige Existenz und Verbreitung der experimentellen Literatur wird in Russland meistens bloß konstatiert, aber nicht genau betrachtet. Als Forschungsobjekt oder als Material für Studierende wird die experimentelle Literatur äußerst ungern gesehen. So zumindest meine Erfahrung.
Warum ist das so?
Dafür gibt es viele Gründe. Erstens sind LiteraturwissenschaftlerInnen es einfach nicht gewohnt, solche Texte zu rezipieren, geschweige denn mit ihnen zu arbeiten. Abgesehen von den 1920er Jahren hat ja die legale Produktion und Publikation experimenteller Texte in Russland eine viel kürzere Geschichte als z.B. in Österreich, denn die russischen Konkretisten der 1960 - 1970er Jahre durften wegen der Zensur nichts publizieren. Die letzten 15 Jahre sind ja keine lange Zeit. Zweitens will man lieber die Finger von Stoffen lassen, deren Zugehörigkeit zur Kunst man auf Schritt und Tritt zu verteidigen gezwungen ist. Diese Überlegung kann ich durchaus nachvollziehen, obwohl ich mich ihr nicht anschließe. Drittens ist es überhaupt schwierig, mit der zeitgenössischen Literatur zu arbeiten, ohne Angst zu haben, in der Fülle der Werke zu ertrinken. Und viertens ist ja die experimentelle Literatur als Forschungsobjekt nun wirklich sehr eigenwillig und provozierend.
Die letzten zwei Gründe spielen sicherlich auch im deutschsprachigen Raum eine Rolle. Doch in Russland kommen in jedem Fall auch die beiden ersten Gründe zur Geltung - und noch einige andere. Im Endeffekt sind bei uns die wenigen, zum Teil schwer zugänglichen Kritiken fast ausschließlich von AutorInnen selbst geschrieben. In dieser Hinsicht sind die russischen KünstlerInnen und ihr Publikum der Literaturwissenschaft ziemlich weit voraus.
Wie findet zeitgenössische experimentelle Literatur in Russland Öffentlichkeit bzw. Verbreitung?
Wenn man das Angebot großer Buchhandlungen studiert, merkt man, dass die mehr oder weniger experimentelle Literatur in Russland einen wichtigen Platz einnimmt. Bücher von Wladimir Sorokin, Lev Rubinstein oder Dmitri Alexandrowitsch Prigow findet man in jedem gut sortierten Geschäft. Doch muss man bedenken, dass dies schon längst bekannte Namen sind. Solche Autoren sind sozusagen schon "Klassiker", wie absurd diese Bezeichnung angesichts des extrem "unhierarchischen" Wesens der experimentellen Literatur auch klingt. Man kauft und liest ihre Bücher zum Teil, weil es zum guten Ton gehört, sie zu kennen, weil sie oft in Medien und Diskussionen auftauchen. Da haben die Verleger keine Angst, ihr Geld zu riskieren.
Nach neueren Namen muss man länger suchen. Hier und da entdeckt man unauffällige Büchlein von einem Dmitri Avaliani oder Arkadi Dragomoschtschenko, oder sonst einem Autor, der, wie man bei uns sagt, "in engen Kreisen weithin bekannt" ist. Doch was sind schon Auflagen von 1000 Exemplaren für ein Land mit über 140 Millionen Menschen.
Die Werke von jüngeren und weniger bekannten ExperimentalistInnen findet man im besten Fall in Anthologien, unter denen es auch richtige "Wunderwerke" gibt. Ein Beispiel dafür ist der umfangreiche Sammelband visueller Poesie "Totschka srenija" (1998), die als die beste Anthologie des letzten Jahrzehnts in Russland gefeiert wurde und natürlich längst vergriffen ist. Sonst begegnet man den von AutorInnen selbst finanzierten Büchern in 50 - 100 Exemplaren oder handgemachten "Objekten", die in 3 bis 5 Exemplaren irgendwo in Moskau oder Petersburg kreisen.
Der Verbreitung experimenteller Werke hilft die noch nicht vergessene Tradition der illegalen Literatur aus sowjetischer Zeit. Die Zensur ist mehr oder weniger aufgehoben, doch "Samisdat" lebt weiter, denn nur wenige Autoren können ihre Bücher aus eigenen Mitteln herausgeben und so gut wie kein Verlag will oder kann das Risiko eingehen, experimentelle Werke selbst in winzigen Auflagen zu publizieren. Darum werden immer noch illegal in staatlichen Druckereien Werke von wohlmeinenden Freunden in der Nachtschicht gedruckt. Nicht aus Zensurgründen, sondern aus einem natürlichen Verlangen der KünstlerInnen, ihre Bücher gebunden und gelesen zu sehen.
Wie gestaltet sich das literarische Leben in St. Petersburg?
Die literarische Welt ist einer der wenigen Bereiche in Russland, die heute trotz allem wirklich gut funktionieren. Für mich ist es angenehm, mit einer Erscheinung in Berührung zu kommen, die gerade jetzt, wenn das Leben in vielen Aspekten schwierig ist, aufblüht. Es gibt literarische Zirkel, Schulen, Gruppen, Vereine. Es gibt eine kaum überschaubare Fülle von kleinen Zeitungen und Zeitschriften, die zwar wegen Geldmangels nur in winzigen Auflagen erscheinen, aber doch leben. Und wenn die einen ihre Existenz beenden, entstehen gleich neue. Es gibt Lesungen. Mehr geschlossene als öffentliche. Es gibt Künstler-Aktionen. Mehr mit Poesie als mit Prosa. Es gibt Orte, wie "Puschkinskaja 10" oder die Galerie "Borej", wo sich KünstlerInnen treffen und miteinander reden können. Es werden wie früher viele Gedichte in den Küchen von Freunden vorgelesen und besprochen. Im allgemeinen habe ich den Eindruck, dass die AutorInnen desto mehr Herz und Seele füreinander haben, je schwieriger die allgemeine Situation ist.
Wie haben Sie die Zeit in Innsbruck erlebt?
Als eine sehr glückliche Zeit. Ich habe die Arbeit genossen. Zum einen, weil ich mein Interesse für zeitgenössische Literatur, meine Gedanken zu dieser äußerst komplexen Erscheinung mit Studierenden und Kollegen teilen konnte. Der Gedanke, dass es ein großes Glück ist, so zu arbeiten, scheint bei Ihnen vielleicht auf den ersten Blick nicht selbstverständlich zu sein. Doch an der Petersburger Universität, wie gut sie auch ist, hätte ich leider so eine Lehrveranstaltung zur heutigen experimentellen Literatur unmöglich durchsetzen können. Dafür ist das Forschungsobjekt viel zu ungewohnt.
Wenn man lange genug über einem so spannendem Thema brütet, ist man glücklich, jemandem die Resultate der einsamen Grübeleien zu erzählen. Bücher und Artikel als einzige Gesprächspartner können lebendige Menschen nicht ersetzen. Geschweige denn, wenn es so interessierte und geistreiche Persönlichkeiten sind, wie ich sie an der Innsbrucker Universität erlebt habe. Der Gedankenaustausch, der im Rahmen der Lehrveranstaltung immer wieder zustande kam, hat mir große Freude bereitet.
Auch außerhalb der eigentlichen Arbeit habe ich in diesen zwei Wochen viele aufschlussreiche Momente erlebt. Sei es die Ausstellung von Lois Weinberger im Taxispalais, wo ich zu meiner großen Freude auch ein zweisprachiges Werk mit einer Mischung von Russisch und Deutsch entdeckt habe. Oder die von Prof. Dr. Johann Holzner geleitete Diskussion zur Literaturgeschichtsschreibung. Oder die von Prof. Dr. Christine Engel und Mag. Eva Binder organisierte Präsentation von Büchern zu russischer Literatur und Filmkunst. Überhaupt hat mich die Innsbucker Universität als ein außerordentlich lebendiger und aktiver Betrieb sehr beeindruckt.
Eine ganz besondere Bereicherung waren für mich zudem die vielen wertvollen Gespräche: Mit Prof. Dr. Christine Engel und Mag. Eva Binder, denen ich auch für ihre außerordentliche Gastfreundschaft und Unterstützung vom Herzen danke, mit Dr. Wolfgang Hackl und Dr. Sieglinde Klettenhammer und natürlich mit den Studierenden und Doktoranden, die ich auf diesem Weg ganz herzlich aus St. Petersburg grüßen möchte.
Dr. Kaminskaja, wie kam Ihr Innsbruck-Engagement zustande?
Meine Einladung an die Universität Innsbruck verdanke ich Prof. Dr. Christine Engel vom Institut für Slawistik. Wir haben uns in Zürich kennen gelernt, wo ich im Slavischen Seminar, geleitet von Prof. Dr. Jochen-Ulrich Peters, immer wieder einmal Vorträge zu zeitgenössischer Literatur halte. Dank dieses Kontaktes durfte ich mich jetzt in Innsbruck am Institut für Slawistik wie zuhause fühlen, wofür ich allen seinen MitarbeiterInnen sehr dankbar bin.
Das Thema der Veranstaltung ergab sich aus meiner Arbeit an einem inzwischen schon erschienenen Artikel für die Zeitschrift "Poetica", welcher der deutsch- und russischsprachigen visuellen Poesie gewidmet ist. Ich finde diesen Forschungsbereich ebenso wichtig wie faszinierend und war sehr froh, hierzu Vorlesungen und Seminare halten zu dürfen.
Welchen Status hat die experimentelle Literatur in Russland, auch im Vergleich mit dem deutschsprachigen Raum?
Seit den 1980er Jahren darf man guten Gewissens vom ständig zunehmenden Gewicht russischsprachiger experimenteller Literatur sprechen. Wenn man die Tradition der illegalen Literatur einbezieht, so kann man die Anfänge dieser Entwicklung spätestens in den 1960er Jahren ausmachen. Jedenfalls ist heutzutage die experimentelle Literatur für das kulturelle Leben Russlands sehr kennzeichnend.
Im Hinblick auf die Verbreitung der experimentellen Literatur ist die Situation in Russland durchaus vergleichbar mit der im deutschsprachigen Raum. Dies ist sicherlich mit den international wirkenden Faktoren verbunden, die die ganze heutige Kulturwelt prägen und sich am ehesten vom mediengeschichtlichen Standpunkt begreifen lassen. Auch das heute noch bemerkbare Nachwirken der konkretistischen Tradition der 60er und 70er Jahre erlaubt wichtige Parallelen in der russisch- und deutschsprachigen Literatur zu entdecken.
Man muss aber keine große Kennerin der russischen Realität sein, um zu bemerken, dass sich das jetzige Russland von den deutschsprachigen Ländern in wesentlichen Aspekten sehr unterscheidet. Auch Unterschiede in der literarischen Situation sind auffällig. Desto faszinierender erscheinen dann die Ähnlichkeiten, die sich manchmal sogar eben aus diesen Unterschieden auf komplizierten Wegen ergeben.
So kann zum Beispiel als eine charakteristische Eigenschaft der heutigen russischen Literatur die Tendenz gelten, sich in besonderem Maße auf die Tradition der russischen Avantgarde aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts zu stützen. Dadurch versucht man über die sowjetische Zeit hinweg eine Brücke in die Zeit vor und kurz nach der Revolution zu schlagen, um die Linie wiederherzustellen, die man in den sowjetischen Zeiten als unterbrochen empfunden hat. Doch wohin gelangen dadurch heutige ExperimentalistInnen? An Chlebnikow, Krutschjonych, Kandinski, Malewitsch, also an die Künstler, deren Schaffen seinerzeit eine große Wirkung auf die westeuropäische und u.a. deutschsprachige Kultur ausgeübt hat und auch bis heute als ein wichtiges Element der experimentellen "Tradition" funktioniert. Dadurch ergeben sich wieder heutige Ähnlichkeiten der russisch- und deutschsprachigen experimentellen Literatur.
Solche Kurven sind ein höchst interessanter Stoff für die Forschung, doch da treten leider Status-Unterschiede der experimenteller Literatur im deutsch- und russischsprachigen Raum ans Licht. Die heutige Existenz und Verbreitung der experimentellen Literatur wird in Russland meistens bloß konstatiert, aber nicht genau betrachtet. Als Forschungsobjekt oder als Material für Studierende wird die experimentelle Literatur äußerst ungern gesehen. So zumindest meine Erfahrung.
Warum ist das so?
Dafür gibt es viele Gründe. Erstens sind LiteraturwissenschaftlerInnen es einfach nicht gewohnt, solche Texte zu rezipieren, geschweige denn mit ihnen zu arbeiten. Abgesehen von den 1920er Jahren hat ja die legale Produktion und Publikation experimenteller Texte in Russland eine viel kürzere Geschichte als z.B. in Österreich, denn die russischen Konkretisten der 1960 - 1970er Jahre durften wegen der Zensur nichts publizieren. Die letzten 15 Jahre sind ja keine lange Zeit. Zweitens will man lieber die Finger von Stoffen lassen, deren Zugehörigkeit zur Kunst man auf Schritt und Tritt zu verteidigen gezwungen ist. Diese Überlegung kann ich durchaus nachvollziehen, obwohl ich mich ihr nicht anschließe. Drittens ist es überhaupt schwierig, mit der zeitgenössischen Literatur zu arbeiten, ohne Angst zu haben, in der Fülle der Werke zu ertrinken. Und viertens ist ja die experimentelle Literatur als Forschungsobjekt nun wirklich sehr eigenwillig und provozierend.
Die letzten zwei Gründe spielen sicherlich auch im deutschsprachigen Raum eine Rolle. Doch in Russland kommen in jedem Fall auch die beiden ersten Gründe zur Geltung - und noch einige andere. Im Endeffekt sind bei uns die wenigen, zum Teil schwer zugänglichen Kritiken fast ausschließlich von AutorInnen selbst geschrieben. In dieser Hinsicht sind die russischen KünstlerInnen und ihr Publikum der Literaturwissenschaft ziemlich weit voraus.
Wie findet zeitgenössische experimentelle Literatur in Russland Öffentlichkeit bzw. Verbreitung?
Wenn man das Angebot großer Buchhandlungen studiert, merkt man, dass die mehr oder weniger experimentelle Literatur in Russland einen wichtigen Platz einnimmt. Bücher von Wladimir Sorokin, Lev Rubinstein oder Dmitri Alexandrowitsch Prigow findet man in jedem gut sortierten Geschäft. Doch muss man bedenken, dass dies schon längst bekannte Namen sind. Solche Autoren sind sozusagen schon "Klassiker", wie absurd diese Bezeichnung angesichts des extrem "unhierarchischen" Wesens der experimentellen Literatur auch klingt. Man kauft und liest ihre Bücher zum Teil, weil es zum guten Ton gehört, sie zu kennen, weil sie oft in Medien und Diskussionen auftauchen. Da haben die Verleger keine Angst, ihr Geld zu riskieren.
Nach neueren Namen muss man länger suchen. Hier und da entdeckt man unauffällige Büchlein von einem Dmitri Avaliani oder Arkadi Dragomoschtschenko, oder sonst einem Autor, der, wie man bei uns sagt, "in engen Kreisen weithin bekannt" ist. Doch was sind schon Auflagen von 1000 Exemplaren für ein Land mit über 140 Millionen Menschen.
Die Werke von jüngeren und weniger bekannten ExperimentalistInnen findet man im besten Fall in Anthologien, unter denen es auch richtige "Wunderwerke" gibt. Ein Beispiel dafür ist der umfangreiche Sammelband visueller Poesie "Totschka srenija" (1998), die als die beste Anthologie des letzten Jahrzehnts in Russland gefeiert wurde und natürlich längst vergriffen ist. Sonst begegnet man den von AutorInnen selbst finanzierten Büchern in 50 - 100 Exemplaren oder handgemachten "Objekten", die in 3 bis 5 Exemplaren irgendwo in Moskau oder Petersburg kreisen.
Der Verbreitung experimenteller Werke hilft die noch nicht vergessene Tradition der illegalen Literatur aus sowjetischer Zeit. Die Zensur ist mehr oder weniger aufgehoben, doch "Samisdat" lebt weiter, denn nur wenige Autoren können ihre Bücher aus eigenen Mitteln herausgeben und so gut wie kein Verlag will oder kann das Risiko eingehen, experimentelle Werke selbst in winzigen Auflagen zu publizieren. Darum werden immer noch illegal in staatlichen Druckereien Werke von wohlmeinenden Freunden in der Nachtschicht gedruckt. Nicht aus Zensurgründen, sondern aus einem natürlichen Verlangen der KünstlerInnen, ihre Bücher gebunden und gelesen zu sehen.
Wie gestaltet sich das literarische Leben in St. Petersburg?
Die literarische Welt ist einer der wenigen Bereiche in Russland, die heute trotz allem wirklich gut funktionieren. Für mich ist es angenehm, mit einer Erscheinung in Berührung zu kommen, die gerade jetzt, wenn das Leben in vielen Aspekten schwierig ist, aufblüht. Es gibt literarische Zirkel, Schulen, Gruppen, Vereine. Es gibt eine kaum überschaubare Fülle von kleinen Zeitungen und Zeitschriften, die zwar wegen Geldmangels nur in winzigen Auflagen erscheinen, aber doch leben. Und wenn die einen ihre Existenz beenden, entstehen gleich neue. Es gibt Lesungen. Mehr geschlossene als öffentliche. Es gibt Künstler-Aktionen. Mehr mit Poesie als mit Prosa. Es gibt Orte, wie "Puschkinskaja 10" oder die Galerie "Borej", wo sich KünstlerInnen treffen und miteinander reden können. Es werden wie früher viele Gedichte in den Küchen von Freunden vorgelesen und besprochen. Im allgemeinen habe ich den Eindruck, dass die AutorInnen desto mehr Herz und Seele füreinander haben, je schwieriger die allgemeine Situation ist.
Wie haben Sie die Zeit in Innsbruck erlebt?
Als eine sehr glückliche Zeit. Ich habe die Arbeit genossen. Zum einen, weil ich mein Interesse für zeitgenössische Literatur, meine Gedanken zu dieser äußerst komplexen Erscheinung mit Studierenden und Kollegen teilen konnte. Der Gedanke, dass es ein großes Glück ist, so zu arbeiten, scheint bei Ihnen vielleicht auf den ersten Blick nicht selbstverständlich zu sein. Doch an der Petersburger Universität, wie gut sie auch ist, hätte ich leider so eine Lehrveranstaltung zur heutigen experimentellen Literatur unmöglich durchsetzen können. Dafür ist das Forschungsobjekt viel zu ungewohnt.
Wenn man lange genug über einem so spannendem Thema brütet, ist man glücklich, jemandem die Resultate der einsamen Grübeleien zu erzählen. Bücher und Artikel als einzige Gesprächspartner können lebendige Menschen nicht ersetzen. Geschweige denn, wenn es so interessierte und geistreiche Persönlichkeiten sind, wie ich sie an der Innsbrucker Universität erlebt habe. Der Gedankenaustausch, der im Rahmen der Lehrveranstaltung immer wieder zustande kam, hat mir große Freude bereitet.
Auch außerhalb der eigentlichen Arbeit habe ich in diesen zwei Wochen viele aufschlussreiche Momente erlebt. Sei es die Ausstellung von Lois Weinberger im Taxispalais, wo ich zu meiner großen Freude auch ein zweisprachiges Werk mit einer Mischung von Russisch und Deutsch entdeckt habe. Oder die von Prof. Dr. Johann Holzner geleitete Diskussion zur Literaturgeschichtsschreibung. Oder die von Prof. Dr. Christine Engel und Mag. Eva Binder organisierte Präsentation von Büchern zu russischer Literatur und Filmkunst. Überhaupt hat mich die Innsbucker Universität als ein außerordentlich lebendiger und aktiver Betrieb sehr beeindruckt.
Eine ganz besondere Bereicherung waren für mich zudem die vielen wertvollen Gespräche: Mit Prof. Dr. Christine Engel und Mag. Eva Binder, denen ich auch für ihre außerordentliche Gastfreundschaft und Unterstützung vom Herzen danke, mit Dr. Wolfgang Hackl und Dr. Sieglinde Klettenhammer und natürlich mit den Studierenden und Doktoranden, die ich auf diesem Weg ganz herzlich aus St. Petersburg grüßen möchte.