The Evolution of Human Sociality
Evolutionäres Denken ist in der Soziologie immer sehr kontrovers diskutiert worden. Dabei wird oft übersehen, dass bereits vor Erscheinen von Charles Darwins „Origin of Species“ (1859) die entwicklungstheoretische Orientierung innerhalb der Soziologie recht ausgeprägt war. Solche Diskussionen finden seit Jahren auch am Institut für Soziologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck statt. In einem eigenen Arbeitsschwerpunkt beschäftigen sich mehrere Institutsmitglieder mit der Frage, ob die Evolutionstheorie für sozialwissenschaftliche Fragestellungen und soziologische Theoriekonstruktionen fruchtbar angewandt werden kann.
Nach der Eröffnung der Tagung durch Rektor Manfried Gantner, dem stellvertretenden Dekan der Fakultät für Politikwissenschaft und Soziologie, Günther Pallaver, und dem Leiter des Instituts für Soziologie Max Preglau wiesen die Organisatoren darauf hin, dass sich die Tagung gezielt mit dem Werk von Stephen K. Sanderson aus Colorado beschäftigt, der eine grundlegende Arbeit über die Auswirkungen des Darwinismus auf soziologisches Denken verfasst hat ('The Evolution of Human Sociality. A Darwinian Conflict Perspective', 2001). Sanderson nahm persönlich an der Tagung teil, so dass die ForscherInnen mit dem Autor Aug in Aug diskutieren konnten.
Kontroverse Diskussion
Evolutionäres Denken hat seinen Niederschlag in praktisch allen theoretischen Hauptströmungen des Faches erfahren, ungeachtet der paradigmatisch unterschiedlichen Konzeptualisierungen und theorieimmanenten Gewichtungen. Wenn auch der theoretisch-begriffliche Zugang nach wie vor kontrovers diskutiert wird und die Reichweite der Modelle unterschiedlich ist, so lässt sich doch für die gegenwärtige Theoriediskussion in verallgemeinernder Absicht festhalten, dass die Historizität des eigenen Gegenstandes unbestritten und das Stadium deterministisch-teleologischer Geschichtsmodelle endgültig überwunden zu sein scheint.
Umstrittener ist demgegenüber das ‘Wie’, d.h. wie die Undeterminiertheit geschichtlicher Prozesse mit der Vorstellung eines strukturierten Zusammenhangs gesellschaftlicher Entwicklungen, einer Konturiertheit prozessualer Abläufe, zusammengedacht werden kann, ohne in überwundene geschichtsphilosophische Vorstellungen zurückzufallen.
Es geht also um ein adäquates theoriegeleitetes Verständnis der geschichtlich manifesten Ausbildung und Entwicklung unterschiedlichster humangesellschaftlicher Organisationsformen und damit um sehr strittige Fragen, nämlich inwieweit empirisch rekonstruierbare Prozessabläufe einem Mechanismus, einer Gesetzmäßigkeit oder gar einer Abfolgelogik folgen bzw. mit deren Hilfe erklärt werden können. Diese fachinterne bzw. innersozialwissenschaftliche Diskussionslage hat nun in den letzten Jahren eine weitere Zuspitzung durch die Frage nach dem Stellenwert und der Relevanz der Allgemeinen Evolutionstheorie für die Sozialwissenschaften und deren Erklärungsbemühungen hinsichtlich langfristiger Wandlungsprozesse gesellschaftlicher Organisationsformen erfahren. Angestoßen und der Soziologie gewissermaßen auch aufgezwungen wurde diese Diskussion nicht zuletzt durch zwei Anwendungen des evolutionären Ansatzes außerhalb der Sozialwissenschaften, nämlich durch die evolutionäre Erkenntnistheorie und die Soziobiologie, deren Forschungen und Statements in der Öffentlichkeit zunehmend rezipiert werden.
Alle diese Fragestellungen wurden anlässlich der Tagung an der LFU diskutiert.