Unterwegs zu einem Völkerrecht der gemeinsamen Fortschrittlichkeit?
Thema war die rechtsphilosophisch brisante Frage, ob das Ende des Kalten Krieges einen Paradigmenwechsel im Völkerrecht eingeleitet habe.
Hat das Ende der machtpolitischen Rivalität zwischen den USA und der ehemaligen Sowjetunion eine Stärkung des Bewusstseins internationaler Rechtsstaatlichkeit bewirkt? Können wir gar von einem Fortschritt der Völkerrechtsordnung im Sinne einer universellen Humanität sprechen? Diesen sowie anderen entscheidenden rechtsphilosophischen Fragen ging Prof. Yee in seinem Gastvortrag mit dem Titel „Towards an International Law of Co-progressiveness – Revisited“ nach.
Entwicklungslinien des modernen Völkerrechts
Wie Yee in seinem Referat ausführte, gibt es gute Gründe zur Annahme, dass sich das moderne Völkerrecht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges positiv weiterentwickelt habe: Waren die internationalen Beziehungen in der „heißen“ Phase des Kalten Krieges hauptsächlich dem Vorrang nationalstaatlicher Souveränität verpflichtet und die einzelnen Staaten bestenfalls auf „Koexistenz“ ausgerichtet, so hat die Entspannungspolitik zwischen den beiden Supermächten einen Paradigmenwechsel hin zu mehr „Kooperation“ ermöglicht. Über die machtpolitischen Interessen der einzelnen Nationalstaaten hinaus wurden im Zuge der militärischen Deeskalation vermehrt Zielsetzungen verfolgt, die von einer Mehrzahl an Staaten mitgetragen wurden.
Yees Gedankengang zufolge hat es aber noch einen weiteren bedeutsamen Paradigmenwechsel gegeben, der im engen Zusammenhang mit dem Zusammenbruch des kommunistischen Blocks und dem sukzessiven Aufstieg der USA zur globalen Hegemonialmacht zu deuten ist. Mit dem Ende des Kalten Krieges setzte sich auf internationaler Ebene zunehmend das Bewusstsein durch, dass der Gemeinschaft der Staaten eine moralische Verantwortung zukomme, der sie sich nicht entziehen dürfe, sondern aktiv stellen müsse. Dieses gemeinsame Bewusstsein habe einen neuen Umgang der Staaten miteinander gefördert, der sich wohl am besten als Völkerrecht der „gemeinsamen Fortschrittlichkeit“ charakterisieren lässt.
„Moralisierung“ der internationalen Beziehungen
In der gegenwärtigen machtpolitischen Konstellation ortete der Referent dann auch eine ausgeprägte „Moralisierung“ der internationalen Beziehungen, die einerseits dazu beigetragen habe, dass man sich verstärkt für den Schutz der Rechte des Individuums, aber auch für die kollektiven Rechte von Minderheiten und Glaubensgemeinschaften einsetzt. Andererseits, so Yee, habe diese „Moralisierung“ aber auch problematische Effekte erzeugt, die darauf zurückzuführen sind, dass im Namen einer vorherrschenden und nicht notwendigerweise universellen „Moral“ ganze Staaten oder Staatenverbände verurteilt werden.
In seinem abschließenden Plädoyer trat der Referent für eine positive Bestimmung des Völkerrechts ein, die nicht moralistisch wirken dürfe, sondern sich an der kulturübergreifenden Idee „menschlichen Glücks“ ausrichten solle.
Zum Referenten
Promotion 1993 an der Columbia University Law School in New York (USA); 2001-2006: Associate Professor of Law an der University of Colorado School of Law in Boulder, Colorado, USA; derzeit: Professor für Internationales Recht und Direktor des Silk Road Institute of International Law an der Xi’an Jiaotong Universität in Xi‘an, China. Sienho Yee war u. a. am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag und am Appellationsgericht der USA (3rd Circuit) in Trenton, New Jersey, tätig. Er ist Berater in der Rechtsabteilung des Internationalen Währungsfonds (IMF). Als Herausgeber der englischen Ausgabe des Chinesischen Jahrbuches für Völkerrecht (Oxford University Press) und als Autor von zahlreichen Publikationen und Artikeln in Fachzeitschriften legte er wichtige rechtstheoretische und -philosophische Abhandlungen zu aktuellen Fragen des Völkerrechts vor, insbesondere zur Rechtssprechung des Internationalen Gerichtshofes (ICJ) und zu Fragen des Statutes des Internationalen Strafgerichtshofes (ICC). Mit seinem jüngsten Werk Towards an International Law of Co-progressiveness (Leiden 2004) unternimmt Sienho Yee eine bedeutende Neuinterpretation des Völkerrechts nach dem Ende der bipolaren Weltordnung.