Rechenpower für die Fusionsforschung
Moderne Forschung im 21. Jahrhundert beruht neben den beiden klassischen Säulen der Wissenschaft - Experiment und Theorie - immer mehr auf einer neuen, dritten Säule: der Simulation. Der rasante Aufstieg der Rechenleistung von Computern in den vergangenen Jahrzehnten ermöglicht heute in vielen Gebieten der Natur- und Ingenieurwissenschaften detaillierte numerische Modellversuche. Durch Berechnung und Simulation können Systeme untersucht werden, die bisher aufgrund ihrer extremen Verhältnisse, Größen oder Komplexität einem quantitativen wissenschaftlichen Zugang verschlossen blieben.
Turbulente Strukturen verstehen
Die neuen Möglichkeiten der Computersimulation führen zu enormen Fortschritten in verschiedensten Fachgebieten. Auch die weltweite Erforschung der Kernfusion, welche die Prinzipien der Energieerzeugung von Sonne und Sternen in Kraftwerken nutzbar machen will, hat sich gerade im vergangenen Jahrzehnt durch die verbesserten Möglichkeiten der physikalischen Modellierung und Simulation auf Supercomputern wesentlich weiter entwickelt. Eines der Ziele der Physiker auf dem Weg zu einem funktionierenden Fusionskraftwerk ist dabei das Verständnis der Turbulenz in den heißen Plasmen, welche für den Transport von Energie und Teilchen innerhalb von starken Magnetfeldern verantwortlich ist. Die Eigenschaften der turbulenten Strukturen bestimmen letztlich die Größe und Effizienz eines sich selbst erhaltenden, brennenden Fusionsplasmas, wie es im nächsten Jahrzehnt mit dem internationalen Großexperiment ITER erstmals realisiert werden soll. Die komplexen Wechselwirkungen des Plasmas mit elektrischen und starken magnetischen Feldern bedingen allerdings einen hohen numerischen Rechenaufwand für ein qualitatives Verständnis und für verlässliche Vorhersagen.
EU-Projekt als wichtiger Schritt für Fusionsforschung
Eine führende Rolle im europäischen Fusionsforschungsprogramm spielt dabei bezüglich der Simulation von Plasmaturbulenz das numerische Modell "GEM", welches unter Leitung von Dr. Bruce D. Scott (Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, Deutschland) zusammen mit Dr. Tiago Ribeiro (Instituto Superior Tecnico, Portugal) und Dr. Alexander Kendl (Universität Innsbruck) weiterentwickelt und angewendet wird. Im Rahmen eines gemeinsamen EU-Projekts erhielten die Plasmaphysiker für ihr Modell nun einen der begehrten "Extreme Computing Initiative Awards 2008" (DECI) der europäischen Supercomputer-Organisation DEISA (Distributed European Initiative for Supercomputer Applications). Damit eröffnet sich den Fusionsforschern der Zugang zu extremer Rechenleistung auf vernetzten europäischen Großrechenanlagen, und es werden erstmals vollständig aufgelöste Simulationen zur Turbulenz in einem Plasma der Größenordung von ITER ermöglicht. Der Physiker Alexander Kendl betreibt seine wissenschaftliche Arbeit in Innsbruck dabei innerhalb der universitären Forschungsschwerpunkte "Ionen- und Plasmaphysik / Angewandte Physik" und "Hochleistungsrechnen".
Der von der EU geförderte Supercomputer-Verbund DEISA stellt dabei die Infrastruktur für extreme wissenschaftliche Simulationen durch eine effiziente Vernetzung von Europas stärksten Höchstleistungsrechnern bereit. Unter anderem sind dabei die Großrechner des Leibniz-Rechenzentrums München, des Forschungszentrums Jülich (mit dem schnellsten zivilen Rechner der Welt) und dem Mare-Nostrum Computer in Barcelona durch eine Grid-Infrastruktur verbunden, und stellen den Wissenschaftlern ihre geballte Rechenpower zur Verfügung. Bisher können damit etwa 30'000 Prozessoren parallel genutzt werden. Nach einem weiteren Ausbau der Rechenkapazität innerhalb der nächsten Jahre soll die verfügbare Leistung im DEISA Grid (bzw. im Nachfolgeprojekt PRACE) im Bereich von mehreren PetaFlop/s liegen, das entspricht 10 hoch 15 Rechenoperationen pro Sekunde. Zum Vergleich: der Innsbrucker Hochleistungs-Rechencluster "LEO I" (rund 200 Prozessoren) erzielt derzeit gerade einige hundert GigaFlops/s. Dem Innsbrucker Plasmaphysiker Kendl bietet sich durch den DECI Award nun die Möglichkeit, Simulationen auf höchstem internationalem Niveau durchzuführen, da in Österreich keinerlei eigene Supercomputer-Infrastruktur existiert.
LEO-II: Zehn mal mehr Rechner-Kapazität für Innsbruck
Im Rahmen seiner Tätigkeit als Referent der interfakultären Forschungsplattform "Informatik & Applied Computing" ist Dr. Alexander Kendl auch wesentlich am weiteren lokalen Ausbau der HPC-Infrastruktur und an der Koordination der wissenschaftlichen Aktivitäten auf dem Gebiet des Hochleistungsrechnens an der Universität Innsbruck beteiligt. Er wirkte unter anderem federführend an der soeben erfolgreich abgeschlossenen Beantragung eines Nachfolgesystems "LEO-II" für den Innsbrucker HPC-Cluster im Rahmen des Forschungs-Infrastrukturprogramms IV mit. Der neue Innsbrucker Hochleistungsrechner wird voraussichtlich Ende 2008 in Betrieb gehen und die Leistung (im Bereich einiger TeraFlop/s) gegenüber "LEO-I" mehr als verzehnfachen.