Der Landarzt: Krankengeschichten aus dem 19. Jahrhundert

Mit den historischen Aufzeichnungen von Dr. Franz von Ottenthal könnte man heute unzählige Arztserien produzieren. Immerhin hat der Südtiroler Landarzt mehr als 87.000 Krankengeschichten dokumentiert. Diese wurden im Rahmen eines EU-Projekts an der Uni Innsbruck in eine Datenbank übertragen und geben Einblick in die medizinische Versorgung der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert.
Magenpulver aus der Zeit Ottenthals
Magenpulver aus der Zeit Ottenthals

Über 50 Jahre lang, von 1847 bis 1899, war Dr. Franz von Ottenthal als praktischer Arzt in Sand im Südtiroler Tauferer Ahrntal tätig. Er notierte Namen, Alter und Wohnorte seiner PatientInnen, übersetzte ihre Beschwerden und Wünsche ins Lateinische, stellte seine Diagnosen, verordnete Medikamente, vermerkte deren Erfolg oder Misserfolg und seine Einnahmen. Er hinterließ insgesamt 244 Hefte mit über 87.000 Krankengeschichten: die sogenannten „Historiae Morborum“.

 

Meilenstein für medizinhistorische Forschung

Ein aus sechs Tiroler und Südtiroler HistorikerInnen bestehendes Team hat im Rahmen eines Interreg IIIa: Italien - Österreich Projektes die Aufzeichnungen Ottenthals in einer Datenbank erfasst und seine wertvolle Hinterlassenschaft für die Forschung nutzbar gemacht. Das von Prof. Elisabeth Dietrich-Daum vom Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie geleitete, sechsjährige Forschungsvorhaben wurde im Februar 2008 abgeschlossen und stellt einen zentralen Beitrag zur Medizingeschichte dar. „Im Gegensatz zu städtischen Siedlungsräumen wussten wir HistorikerInnen über die Gesundheitsverhältnisse am Land bisher noch wenig“, erklärt Prof. Dietrich-Daum die Bedeutung der Historiae Morborum. Im Zuge der Datenerfassung konnten bereits einige interessante Erkenntnisse über die medizinische Versorgung der Menschen im Tauferer Ahrntal gewonnen werden.

 

Der Arzt, dem Frauen vertrauten

Neben epidemiologischen Studien und Auswertungen zur Entwicklung der Patientenschaft Ottenthals wurden unter anderem einzelne Personengruppen wie z.B. Säuglinge näher untersucht. Aber auch männliches und weibliches medikales Verhalten und geschlechtsspezifische Themen im Allgemeinen zählten zu den Forschungsinteressen der ProjektmitarbeiterInnen. So wurde beispielsweise deutlich, dass Franz von Ottenthal von Frauen zunehmend konsultiert wurde, obwohl jedes Dorf mindestens eine Hebamme hatte. „Frauen haben begonnen sowohl den Arzt als auch die Hebamme intensiv zu konsultieren“, weiß Dietrich-Daum. Ein Grund dafür war, dass Ottenthal ein Spezialist für Frauenkrankheiten war. Die Tatsache, dass Ottenthal insbesondere von Frauen häufig aufgesucht wurde, passt laut Dietrich-Daum allerdings auch in einen gesamtgesellschaftlichen Trend: „Im 18. und 19. Jahrhundert wurde zunächst die Gruppe der Frauen medikalisiert. Männer gingen in der Regel erst dann zum Arzt, wenn sie schwere Verletzungen oder sehr starke Schmerzen hatten. Frauen scheinen der Medikalisierung gegenüber offener gewesen zu sein als Männer“, resümiert die Historikerin.

 

Teure Medikamente – Mistauflegen als Alternative

Zu Ottenthals Zeit mussten die meisten PatientInnen für den Arzt und die Medikamente selbst aufkommen, und schon damals wurde heftig über die steigenden Medikamentenkosten diskutiert. Darüber hinaus wurde von Ottenthal und seinen Zeitgenossen häufig bemängelt, dass mit neu auf den Markt gebrachten Medikamenten nicht der versprochene Heilungserfolg erzielt werden könne. „Ottenthal war ein Arzt, der wusste, was sich die Bevölkerung leisten kann und was sie braucht“, erläutert Dietrich Daum. „Er scheute sich nicht die Grenze zwischen Schulmedizin und Laienmedizin zu überschreiten und verschrieb unter anderem einfache Hausmittel wie Mist- oder Zwiebelauflegen“, so Wissenschaftlerin weiter. – Ottenthal vermerkte in seinen Notizen akribisch, welche Medikamente er wann und wie oft verabreicht hatte und welche Wirkung diese zeigten. In diesem Sinne sind Ottenthals Krankengeschichten auch für PharmamziehistorikerInnen eine Fundgrube. Aber auch für die Namensforschung, die Geräteforschung oder die Food-Forschung eröffnen Ottenthals Aufzeichnungen neue Perspektiven.

 

Anonymisierte Datenbank öffentlich zugänglich

Die tabellenförmigen Niederschriften Ottenthals wurden in eine online-Datenbank übertragen. Eine anonymisierte Version ohne Namen und Angaben zu den Höfen steht auf http://www.uibk.ac.at/ottenthal/index.html allen Interessierten zur Verfügung. Wissenschaftler erhalten per Antrag Zugriff auf die Vollversion der Datenbank.

Text: Eva Fessler