Die feinen Unterschiede
Barbiturate wurden Ende des 19. Jahrhunderts entdeckt und zählten bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den meistgenutzten Schlafmitteln. Diese Arzneistoffe wurden aber auch massiv missbraucht, und so manch ein Idol der Zeit setzte seinem Leben mit Hilfe von Barbituraten selbst ein Ende. Obwohl die Stoffe heute nicht mehr diese Rolle spielen, waren die Innsbrucker Pharmazeuten überrascht, wie häufig Barbiturate noch eingesetzt werden. Die Weltjahresproduktion liegt derzeit bei rund 600 Tonnen, wovon 80 Prozent auf Phenobarbital entfallen. „Diese Verbindungsklasse wurde zwar schon vielfach untersucht, es fehlte aber bis heute eine systematische Darstellung ihrer strukturellen Eigenschaften“, sagt Prof. Ulrich Griesser. Dieses Defizit wollen die Innsbrucker Pharmazeuten nun beheben. „Wir analysieren die strukturellen Eigenschaften und die Art und Weise, wie die Moleküle in kristallinen Festkörpern assoziieren“, erklärt Griesser. Es sei wie ein Puzzelspiel, die unterschiedlichen Kristallisationsformen der Arzneistoffe zu ordnen und oft sei es überraschend, welche Varianten man dabei finde. „Uns interessiert vor allem, wie häufig man verschiedene Varianten eines bestimmten strukturellen Aufbaus findet und wie groß die energetischen Unterschiede dieser Zustände sind“, ergänzt der Pharmazeut. Über 80 Substanzen umfasst das Repertoire, das die Wissenschaftler derzeit untersuchen. Für einen bekannten Vertreter der Barbiturate, das Phenobarbital, haben sie jetzt eine systematische Darstellung veröffentlicht. Die Zeitschrift Crystal Growth & Design widmete der Arbeit ihre Titelseite.
Methode: Alt aber gut
Phenobarbital kam 1912 als zweites Derivat der Barbitursäure auf den Markt und wurde unter dem Handelsnamen Luminal vertrieben. „Wir haben möglichst viele Bauprinzipien und Variabilitäten von Kristallstrukturen untersucht“, erzählt Ulrich Griesser. „Es geht dabei um die ganz feinen Unterschiede, die nicht nur für die Grundlagenforschung von Interesse sind, sondern auch Auswirkungen auf die Produktion und Wirksamkeit von Arzneistoffen haben.“ Mit Hilfe von Röntgendiffraktionsmethoden, Heizmikroskopie und Thermoanalyse, Spektroskopie und Festkörper-NMR prüften sie die verschiedenen Kristallisationsformen auf Herz und Nieren. Sechs stabile Formen des Phenobarbital konnten Griesser und seine Kollegen mit herkömmlichen Kristallisationverfahren herstellen und mit „State of the Art“-Techniken analysieren. Unter Zuhilfenahme einer Methode, die von der ehemaligen Innsbrucker Ordinaria Maria Kuhnert-Brandstätter entwickelt wurde, konnten fünf weitere, metastabile Kristallformen erzeugt werden. „Man benutzt dabei einen zweiten, ähnlichen Stoff, mit dem sich – wenn man es richtig anstellt – die Kristallisation von neuen Zustandsformen erzwingen lässt“, erklärt Ulrich Griesser. „Wir wollten mit den Arbeiten auch demonstrieren wie man fast vergessene experimentelle Techniken erfolgreich einsetzten kann.“ Mit elf lösungsmittelfreien Kristallformen ist Phenobarbital derzeit der Spitzenreiter unter den organischen Molekülen. Noch mehr kristalline Zustandsformen ein und desselben Stoffes kennt man nur von einigen anorganischen Stoffen, allen voran Wasser (Eis) mit 13 und Schwefel mit 12 Formen.
Kristallstrukturen vorhersagen
Thomas Gelbrich, Lise-Meitner-Stipendiat in der Arbeitsgruppe von Griesser, hat ein Computerprogramm entwickelt, mit dem die im Experiment gewonnenen Strukturdaten weiter ausgewertet werden können. „Wir bilden dabei Klassen, in denen die gleichen Strukturtypen zusammengefasst werden“, erklärt Gelbrich. Das langfristige Ziel ist es, die Baumechanismen in Kristallen bei bestimmten Struktureigenschaften besser zu verstehen und damit – gemeinsam mit Theoretikern – einen Beitrag zu leisten, um die Vorhersage von Kristallstrukturen zu optimieren.
Zum 90. Geburtstag
Die Arbeiten entstanden im Rahmen der Forschungsplattform „Material- und Nanowissenschaften (Advanced Materials)“, deren Veröffentlichungen haben die Autoren Prof. Maria Kuhnert-Brandstätter zu Ihrem 90. Geburtstag gewidmet. Sie hat über 40 Jahre das Institut für Pharmakognosie an der Universität Innsbruck geleitet. Durch Ihre Leistungen und Aktivitäten genießt Innsbruck heute Weltruf auf dem Gebiet der Heiztischmikroskopie und der Polymorphieforschung. „Der Erfolg dieser Arbeiten beruht nicht nur auf dem Einsatz modernster experimenteller Techniken, sondern ganz wesentlich auf den einzigartigen Untersuchungen, die in den 1960er Jahren von Prof. Kuhnert-Brandstätter und ihren Mitarbeitern durchgeführt wurden“, erklärt Ulrich Griesser abschließend.
(cf)