Nachhilfe bei historischem Freigeld-Bürgermeister
Das Wörgler Wunder
Im Sommer 1932, vor fast auf den Tag genau 75 Jahren (die entscheidende Gemeinderatssitzung fand damals am 5. Juli statt), wurde in Wörgl ein Sozialexperiment gestartet, das weit über die regionalen Grenzen des Ortes hinaus Furore machte und bisweilen in die Literatur auch als „WÖRGLER WUNDER“ eingegangen ist. Was war passiert? In Österreich, Tirol und auch in Wörgl grassierte damals enorme Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Tristesse. Die große Weltwirtschaftskrise erreichte 1932/33 ihren Höhepunkt. In dieser Not, in der ALLES (vor allem auch der Geldumlauf) praktisch völlig zum Stillstand zu kommen drohte, erinnerte sich Michael Unterguggenberger, der sozialistische Bürgermeister von Wörgl, an die Schriften des Ökonomen Silvio Gesell, die er während des Ersten Weltkrieges gelesen hatte. Gesell war ein Schwundgeldtheoretiker, der mit analytischer Schärfe – die vielen damaligen Ökonomen offenbar fehlte – gesehen hatte, dass es in Krisensituationen oft insbesondere am „Schmiermittel“ Geld fehlte, nicht zuletzt deshalb, weil es einfach nicht da war (infolge von Arbeitslosigkeit) oder gehortet wurde (in Deflationszeiten ist es ökonomisch sinnvoller, nicht unbedingt notwendige Güter später zu kaufen, da sie dann billiger sind). Unterguggenberger eiferte dieser Idee nach und sah die Lösung der damaligen Wörgler Probleme in einer Geldform, die permanent entwertet wurde und sich daher nicht zum Horten eignete. Da der Wert eines solchen Geldes automatisch schwindet (zum Beispiel monatlich um einen fixen Betrag) bezeichnet man es als „Schwundgeld“.
Breite Basis in der Gemeinde
Zwei große Probleme galt es dabei zu lösen oder besser zu beseitigen: Erstens musste Guggenberger auch die anderen Entscheidungsträger in Wörgl von seiner Idee überzeugen, und zweitens galt es den Begriff „Geld“ zu vermeiden, um nicht mit dem Monopolisten der Geldausgabe, der Notenbank, in Konflikt zu geraten. Ersteres gelang Unterguggenberger auf besonders beeindruckende Weise. Obwohl Sozialist und aus der Kirche ausgetreten, konnte er den katholischen Pfarrer Riedelsperger für seine Idee gewinnen, er gab ihm so im besten Sinne des Wortes KREDIT. Nach Wochen des Klinkenputzens unterstützten ihn auch die politischen Gegner, noch am meisten Überzeugungsarbeit brauchte er für die eigenen Fraktionskollegen. Zu guter Letzt wurde im Gemeinderat das Sozialexperiment einstimmig beschlossen und dann in die Tat umgesetzt.
Der Erfolg war überwältigend. Binnen kurzer Zeit konnten in Wörgl bis zu 100 Arbeitslose (von insgesamt 400) wieder beschäftigt werden, während in Österreich die Arbeitslosigkeit noch weiter erheblich zunahm. Kaufkraft kehrte in die lokale Wirtschaft zurück. Rasch wurde daher das Experiment weit über Wörgl hinaus bekannt, selbst ein ehemaliger französischer Ministerpräsident besuchte die Gemeinde und auch der amerikanische Kongress beschäftige sich damit. In Österreich selbst dachten dutzende Gemeinden daran, Wörgls Erfolgsrezept zu übernehmen. Der empirische Befund lag also auf der Hand. Für die damaligen Rahmenbedingungen (Wirtschaftskrise und Deflation) schien das von der Gemeinde Wörgl verbreitete Schwundgeld, das monatlich 1 Prozent an Wert verlor, geradezu ideal.
Die Obrigkeit schweigt nicht
Unterguggenberger selber nannte aber die ausgegebenen Scheine ganz gezielt NICHT „Geld“, sondern „Arbeitsbestätigungsscheine“. Er wollte ganz bewusst die Analogie zum Geld und damit auch einen Konflikt mit der Nationalbank vermeiden. Trotz des empirisch unzweifelhaft erwiesenen Erfolgs, einer erheblichen Linderung der Not in der Gemeinde, entschied der österreichische Verwaltungsgerichtshof im November 1933 endgültig gegen das Sozialexperiment. Eine alte Tatsache bewahrheitete sich: Wenn die „OBEREN“ nicht wollen, nützt auch beste Empirie nichts (die Geschichtsbücher sind voll von dieser Tatsache). Nach knapp 16 erfolgreichen Monaten wurde das Wörgler Wunder eingestellt, obwohl es bestens funktionierte und obwohl sich die ökonomischen Rahmenbedingungen (Deflationszeit) sich in diesem Zeitraum ja nicht verändert hatten.
Anschauliche „Nachhilfe“
Heute kennt niemand mehr die Namen der Juristen, die dieses Experiment damals zu Fall brachten, der Name des letztlich gescheiterten Bürgermeisters Unterguggenberger wird aber mit Sicherheit auch in den nächsten Jahrzehnten ein fixer Bestandteil der Geschichte der Stadt Wörgl (und darüber hinaus) bleiben. Dafür werden nicht nur die zahlreichen Unterguggenberger-Fans sorgen, die es nicht zuletzt in heutigen Globalisierungskritischen Gruppierungen gibt, sondern ebenso Kulturvereine, wie in diesem Fall das KOMMA, in dessen Räumen die Aufführung stattfand. Immerhin lauschten rund hundert Zuschauerinnen und Zuschauer (es fanden sich kaum noch freie Plätze) an jenem Dienstagabend den Ausführungen der beiden Schauspieler Florian Adamski und Wolfgang Niedermayer und beklatschten lautstark die rundum gelungene und manchmal „interaktive“ Aufführung, an der auch – über Videoeinspielungen, teils auch in Form von Gesangseinlagen – Laiendarsteller aus der Wörgler Bevölkerung teilgenommen haben. Aufgrund des großen Erfolges wird auch schon über eine Neuaufnahme des Stückes im kommenden Spieljahr nachgedacht.
Noch immer „rollt“ also das Geld wegen Michael Unterguggenberger, das in diesem Fall aber (hoffentlich) nicht zu schnell „schwinden“ möge. Dies gilt auch für die Unterstützung (und dies sei dankend erwähnt), die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an dieser Exkursion von der Fakultät für Volkswirtschaft und Statistik gewährt wurde. Die dafür aufgewendeten Euro sind nun zwar aus dem Fakultätsbudget „entschwunden“, sie kursieren nun aber daher wieder – über Busgesellschaft und Veranstalter – in der Wirtschaft, wo das oft in seiner Bedeutung unterschätzte „Schmiermittel“ Geld auch in vergleichsweise „normalen“ Zeiten wie heute am meisten „Nutzen“ bringt. Und in den Köpfen der Studierenden und Lehrenden ist zudem das „Humankapital“ vergrößert worden. Gerade dieses in die soziale Tat umgesetzte „Kapital“ war es ja, das in der Person von Unterguggenberger auch am Beginn des Wörgler Wunders stand, und das, wenn man heutige Weltprobleme betrachtet, immer noch eine der wertvollsten, glücklicherweise aber auch vermehrbarsten Ressourcen darstellt.