“Wie die Rückkehr in die Hölle!”
“Für mich ist das wie die Rückkehr in die Hölle!” mit diesen drastischen Worten beschreibt der kanadische General Roméo Dallaire, seine Rückkehr nach Ruanda, 10 Jahre nach dem Völkermord, dem in knapp 100 Tagen von April bis Juli 1994 ungefähr 800.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. General Dallaire war damals der Kommandant der UN-Mission UNAMIR, die dabei helfen sollte, das Friedensabkommen zwischen den Volksgruppen der Hutu und Tutsi umzusetzen. Seine Zeit in Ruanda und das Scheitern seiner Mission hat er im autobiografischen Buch „Shake Hands with the Devil“ und in einem gleichnamigen Dokumentarfilm zusammengefasst. Für diesen Film begab sich General Dallaire noch einmal auf die eigenen Spuren zu den Orten des Grauens. Der Film bildete dann auch den Einstieg für eine sehr engagierte und fachkundige Diskussion über das Scheitern der Vereinten Nationen in diesem konkreten Fall, aber auch die Grenzen der Diplomatie, Frieden zu sichern. Die deutlich mehr als 100 Anwesenden diskutierten dazu mit Dativa Kraus-Mukasekuru, Angehörige der Volksgruppe der Tutsi, die im Zuge des Völkermordes nahezu ihre gesamte Familie verlor, Hauptmann Kurt Meissner vom Österreichischen Bundesheer, der als Beobachter Teil der UN-Mission in Ruanda war, Jennifer May, Botschaftsrätin in der kanadischen Botschaft in Wien und Dr. Thomas Spielbüchler vom Institut für Zeitgeschichte, der die Diskussion leitete.
Eine lange Konfliktgeschichte
Ruanda ist ein kleiner ostafrikanischer Staat. Auf einem Drittel der Fläche Österreichs lebten vor dem Genozid geschätzte 7,5 Mio. Einwohner. Es war damit der am dichtesten besiedelte Staat Afrikas. Die Bevölkerung setzte sich zusammen aus rund 84% Hutu, 15% Tutsi und 1% Twa. Für die Menschen in Ruanda war es schon seit langer Zeit von großer Bedeutung, welcher Gruppe man angehörte. Der ethnische Hintergrund entschied zunächst über die Chancen des Einzelnen, später über Leben und Tod.
Als Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts Ruanda als Kolonialgebiet übernahm, reagierte eine schmale Tutsi-Elite das Land. An der Spitze stand ein König. Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Belgien die Mandatsherrschaft über Ruanda und setzte das von den Deutschen begonnene System der Stärkung einer Gruppe fort. Hutu wurden aus verantwortlichen Positionen verdrängt, die Tutsi-Aristokratie behielt die Macht in Ruanda. Die Belgier führten Anfang der 1930er Jahre auch den Vermerk der ethnischen Zugehörigkeit auf den Personalausweisen ein. Damit war die Zugehörigkeit jedes Einzelnen festgeschrieben und wurde patrilinear vererbt. Entscheidend war dies z. B. bei Bildungsmöglichkeiten und gesellschaftlichen Aufstiegschancen.
Die Herrschaftsverhältnisse änderten sich ab dem Ende der 1950er Jahre. Ein radikaler Umschwung der belgischen Kolonialverwaltung führte die Hutu an die Macht in Ruanda. Der König wurde abgesetzt, die Republik Ruanda am 1. Juli 1962 unabhängig.
Der Machtwechsel und die Unabhängigkeit brachten auch die direkte Gewalt nach Ruanda. Es kam zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und zehntausende Tutsi verließen die Heimat, in der sie quasi rechtlos waren. Immer wieder wurde der Hass gegen die Tutsi-Minderheit instrumentalisiert, um die Machtpositionen im Hutu-Lager abzusichern: quasi ein gemeinsamer Feind als Ventil für das sich immer stärker differenzierende Hutu-Lager.
Im Oktober 1990 begann eine Tutsi-Rebellenarmee aus dem benachbarten Uganda nach Ruanda vorzustoßen, konnte durch französische und kongolesische Unterstützung der ruandesischen Armee aber gestoppt werden. Dadurch kam es zu einem Bürgerkrieg, der im August 1993 vorerst mit dem Friedensabkommen von Arusha beendet wurde. Das Abkommen sah vor, eine neue Verfassung auszuarbeiten, eine gemeinsame Übergangsregierung zu bilden, die Armeen zusammenzulegen und die Rückkehr der Flüchtlinge zu ermöglichen. Die Konfliktparteien baten die Vereinten Nationen um eine UN-Mission zur Unterstützung des Friedensabkommens – UNAMIR mit Romeo Dallaire an der Spitze. UNAMIR war eine Beobachtermission mit schwachem Mandat – theoretisch ausreichend, falls beide Parteien tatsächlich für den Frieden gearbeitet hätten. In Ruanda war die Regierung von Präsident Juvénal Habyarimana aber nicht sonderlich an einer raschen Implementierung des Friedensabkommens interessiert, da dies den Machtverlust bedeutet hätte. Tatsächlich wurde bereits seit Jahren eine ganz andere Lösung des Problems vorbereitet: die Ermordung aller Tutsi. Dafür war UNAMIR nicht gerüstet, obwohl es ausreichend Anzeichen gab, auf welche Katastrophe das Land zusteuerte.
Kaum Interesse der Weltöffentlichkeit
Am 6. April 1994 wurde das Flugzeug mit Präsident Habyarimana an Bord beim Landeanflug auf Kigali, der Hauptstadt Ruandas, abgeschossen. Bis heute ist nicht wirklich geklärt, wer letztlich für diesen Anschlag verantwortlich war. Er bildete das Startsignal zu einem Völkermord, der binnen 100 Tagen mindestens 800.000 Menschen das Leben gekostet hat. Hier setzte dann auch die bewegende Diskussion ein, die mit der beklemmenden Frage von Dativa Kraus-Mukasekuru begann, wieso die Weltöffentlichkeit und die Vereinten Nationen trotz der Kenntnis der Situation und trotz entsprechender Warnungen und Hinweise von General Dallaire, dem Mordtreiben keinen Einhalt geboten haben. Unter der fachkundigen Diskussionsleitung von Dr. Spielbüchler vom Afrikaschwerpunkt des Instituts für Zeitgeschichte wurde schnell klar, dass effektive Friedenssicherung durch die Vereinten Nationen und die Abwehr von Gewalttaten gegen eine Zivilbevölkerung nur dann möglich sind, wenn die Mitglieder im UN-Sicherheitsrat bzw. die an einer Mission beteiligten Staaten tatsächlich voll hinter diesen Herausforderungen stehen. Beschämend und ernüchternd zeigte sich, dass das Interesse besonders seitens der USA, Frankreichs aber auch Belgiens nicht vorhanden war. Afrika stand im Vergleich zum Balkan oder dem Nahen und Mittleren Osten ganz unten auf den Agenden. Hauptmann Meissner schilderte seine eigenen Erfahrungen und versicherte sehr nachdrücklich, dass das UN-Kontingent in Ruanda seiner Meinung nach nicht in der Lage gewesen wäre, die Gewaltexzesse zu beenden. Ähnlich desillusionierend argumentierte auch die Vertreterin der kanadischen Botschaft, Jennifer May. Sie erläuterte die Schwierigkeit diplomatischer Prozesse und deren Aussichtlosigkeit, wenn keine starke Lobby dazu bereits sei, konkrete Handlungen zu setzen. Bemerkenswert in der Diskussion war auch der explizite Hinweis, dass es sich bei diesem Völkermord nicht um den spontanen Ausbruch von unvorstellbarer Gewalt gehandelt haben kann. Vielmehr wurde klar, dass das Töten von langer Hand vorbereitet worden sein musste und mit spezieller Propaganda auch gezielt angeleitet worden war. Rassistische Hinweise auf die für afrikanische Völker scheinbar „typische Brutalität“ und Spontaneität dieser Handlungen, über deren entsetzliche Tragweite man nichts gewusst habe, waren offensichtlich nur willkommene Argumente für die Zurückhaltung für der Weltgemeinschaft.
Unklare Zukunft
Zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen die DiskussionsteilnehmerInnen auch beim Blick in die Zukunft. Während sich Frau Kraus-Mukasekuru leicht optimistisch zeigte und der Meinung war, dass die Maßnahmen der derzeitigen Regierung zu einer Überwindung der Konflikte zwischen Tutsi und Hutu führen könnten, sahen dies die anderen deutlich komplizierter. „Diese gesamte Region der Großen Seen, neben Ruanda also auch der Osten der Demokratischen Republik Kongo oder Burundi, seien instabil und in gewisser Weise ein Pulverfass.“, betonte Spielbüchler. Ebenso kam man zu dem ernüchternden Resümee, dass sich ähnliche Gewaltexzesse in Krisengebieten wiederholen können, wenn die Vereinten Nationen nicht dazu in der Lage, oder die Mitglieder nicht Willens sind, dagegen entschieden vorzugehen und auch entsprechend einzugreifen.
Den beiden Organisatoren, dem Kanadazentrum und dem Afrika-Schwerpunkt des Instituts für Zeitgeschichte ist mit dieser Veranstaltung ein bemerkenswerter Diskussionsabend gelungen, auch wenn die Aussichten auf friedenserhaltende Maßnahmen und die mögliche Rolle, die die Vereinten Nationen in solchen Konflikten spielen könnte, eher enttäuschend sind.