Ein Durchreiseplatz für Roma und Sinti in Tirol?
Zurückgekehrt von einer dreitägigen Exkursion, die die Studierenden-Gruppe von 48 Personen, im Mai zum Durchreiseplatz in Linz und zu Gedächtnisorten der Roma und Sinti in Salzburg, Sierning, Steyr und Mauthausen geführt hatte, wandten sich die Studierenden und die Leiterinnen der Exkursion, Prof. Erika Thurner und Dr. Beate Eder-Jordan, dieser gesellschaftspolitischen Frage zu. Die Sinti-Vertreterinnen Gitta Martl und Nicole Sevik vom Verein „Ketani“ (Miteinander) in Linz, LA Dr. Christine Baur und Dr. Jussuf Windischer (Caritas-Integrationshaus) nahmen ebenfalls an der Diskussion teil. Die Begrüßungsworte sprach der Rektor der Universität Innsbruck, Univ.-Prof. Dr. Karlheinz Töchterle.
Auch wenn die große Mehrheit der schätzungsweise 10 bis 12 Millionen Roma in Europa zum Teil schon seit mehreren Jahrhunderten sesshaft ist, gibt es einige Gruppen, die vor allem im Sommer auf die Reise gehen, um Familienmitglieder zu treffen, Dienstleistungen anzubieten oder an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen. Auf Campingplätzen sind diese Gruppen meist nicht willkommen, Konflikte somit vorprogrammiert. Mit kostenpflichtigen Durchreiseplätzen, wie sie in Linz und Braunau bereits existieren, wurden gute Erfahrungen gemacht. In Vertretung der Bürgermeisterin der Stadt Innsbruck, Mag. Christine Oppitz-Plörer, bekundete die Integrationsbeauftragte der Stadt, Notburga Troger, Interesse an der Thematik.
Anhand von Text- und Bildmaterial, Auszügen aus einer selbstproduzierten Radiosendung und einem Kurzfilm präsentierten die Studierenden dem Publikum Erfahrungen und Eindrücke der Exkursion, an der auch eine Absolventin der Architektur und die jenische Autorin Sieglinde Schauer-Glatz teilgenommen hatten. Musikalisch umrahmte den Abend die Balkan Fratelli Band, Sieglinde Schauer-Glatz las Gedichte.
Die Exkursion
Der Genozid an Roma und Sinti im Nationalsozialismus war jahrzehntelang ein Thema, das kaum von Roma selbst und erst spät von der Wissenschaft oder der Öffentlichkeit thematisiert wurde. Erst mit Beginn der Roma-Bewegung, Anfang der 1990er Jahre, wagten Betroffene den Schritt in die Öffentlichkeit und begannen das Erlittene und ihre traumatischen Erlebnisse künstlerisch aufzuarbeiten. In diesem Prozess spielen Gedenkstätten und Mahnmale eine bedeutende Rolle. Die Studierenden besuchten den Ort des ehemaligen NS-Anhalte- und Zwangsarbeitslagers Salzburg-Maxglan bzw. Salzburg-Kräutlerweg, das Roma-Mahnmal zum Gedenken an die im NS-Anhaltelager Salzburg-Maxglan inhaftierten und von dort 1943 nach Auschwitz deportierten Roma und Sinti (Salzburg-Ignaz-Rieder-Kai) und wurden von Gitta Martl und Nicole Sevik, Nachkommen der Opfer, durch das ehemalige KZ Mauthausen geführt.
Der Schriftsteller Erich Hackl, der mit Abschied von Sidonie dem nach Auschwitz deportierten Kind Sidonie Adlersburg ein literarisches Denkmal geschaffen hatte, begleitete die Gruppe zur Sidonie-Skulptur in Sierning und zu den Stätten der Februarkämpfe 1934 in Steyr. In Linz traf die Gruppe den Schriftsteller Ludwig Laher (Herzfleischentartung, Und nehmen was kommt, Uns hat es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Hg. von Ludwig Laher), der in mehreren seiner Bücher und Filme der Verfolgungsgeschichte der Roma und Sinti und der schwierigen gegenwärtigen Situation nachspürt.
Die Studierenden rezipierten diese Begegnungen mit Interesse und Betroffenheit und profitierten vom intensiven Kontakt zu den Sinti-Vertreterinnen Gitta Martl und Nicole Sevik vom Verein Ketani (Miteinander). Julia Grabenweger, Studentin der Vergleichenden Literaturwissenschaft, las bei der Veranstaltung im Innsbrucker Rathaus Auszüge aus ihrem Exkursionstagebuch:
„Hier ist vielleicht der Punkt erreicht, an dem ich auch ausdrücklich darauf hinweisen will, wie dankbar ich dafür bin, dass diese Exkursion aufgezeigt hat, welch gesellschaftliche Relevanz nicht nur Literatur, sondern auch und ganz besonders Wissenschaft haben kann. Mit PionierInnenarbeit, wie sie zum Beispiel Wissenschaftlerinnen wie Erika Thurner oder Beate Eder-Jordan in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der Roma-und-Sinti-Forschung betrieben haben, wurde schließlich nicht nur das Wissen um diese Kultur und ihre Geschichte erarbeitet und gefestigt, sondern deren gesellschaftliche Anerkennung vorangetrieben, ihr Status als Opfer des NS-Regimes erkämpft und derlei mehr. Dieses Bewusstsein für die gesellschaftsgestaltenden und -verändernden Möglichkeiten von Wissenschaft halte ich für essentiell, gerade für uns als potentiell zukünftig auch in diesem Bereich Tätige.“
Die Exkursion sowie die Veranstaltung im Plenarsaal des Rathauses sind Teil der Bemühungen von Erika Thurner und Beate Eder-Jordan, "Romani and Traveller Studies" an der Universität Innsbruck in Forschung und Lehre zu etablieren. Im kommenden Wintersemester wird die interfakultäre Kooperation mit einer Ringvorlesung und einer wissenschaftlichen Tagung fortgesetzt. Studierende, die Lust und Interesse haben, Einblick in das Romanes, die neuindische Sprache der Roma, zu erhalten, können einen entsprechenden Kurs am Internationalen Sprachenzentrum Innsbruck (isi) belegen.
Kooperationspartner und Förderer: Österreichische Hochschülerschaft, Stadt Innsbruck, Forschungszentrum Kulturen in Kontakt (KiK) /Philologisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Innsbruck, Gesellschaft für politische Aufklärung, Initiative Minderheiten, Land Tirol / Kulturabteilung