Tieftemperaturrekord für flüssiges Wasser aufgestellt
Wasser kann bei viel tieferen Temperaturen noch flüssig sein, als bisher angenommen. Das haben Forscher der Universität Innsbruck um den Chemiker Thomas Lörting und der TU Dortmund um den Physiker Roland Böhmer nun experimentell nachgewiesen. Diese überraschende Erkenntnis wirft ein neues Licht auf die Frage, wie organische Verbindungen oder gar Leben im Weltall entstehen können.
Die Forschungsgruppe um Thomas Lörting vom Institut für Physikalische Chemie der Universität Innsbruck stellt unter hohem Druck und bei sehr tiefen Temperaturen hochdichtes, amorphes Eis her. Im Gegensatz zu kristallinem Eis sind die Wassermoleküle in amorphem Eis unregelmäßig angeordnet. Dieses Eis ist damit flüssigem Wasser sehr ähnlich - quasi die erstarrte Form von fließendem Wasser. Im Weltall kommt Eis fast ausschließlich in der amorphen Form vor, während es auf der Erde immer als kristallines Eis vorliegt. „Wir entspannen das amorphe Eis, damit es in den Gleichgewichtszustand kommt“, erklärt Lörting. „Dann erwärmen wir es sehr langsam im Vakuum oder bei Umgebungsdruck und überprüfen, bei welcher Temperatur es sich verflüssigt.“ Flüssig definieren die Wissenschaftler einen Zustand, in dem der Stoff nach einer Störung innerhalb von höchstens 100 Sekunden in seinen Gleichgewichtszustand zurückkehrt, also „relaxiert“.
Flüssig bei -157 Grad Celsius
Die Innsbrucker Chemiker haben die Messungen zunächst mit einem Kalorimeter durchgeführt und kamen zu dem überraschenden Ergebnis, dass das hochdichte, amorphe Eis bereits bei rund -157 Grad Celsius (116 Kelvin) vom erstarrten in den flüssigen Zustand übergeht. „Es handelt sich dabei um eine hochviskose Flüssigkeit, die zäher als Honig ist“, beschreibt ERC-Preisträger Thomas Lörting das tief unterkühlte Wasser. Bei -148 Grad Celsius (125 K) relaxiert das hochdichte, flüssige Wasser innerhalb von einer Sekunde, wie Messungen mittels dielektrischer Spektroskopie an der Technischen Universität Dortmund zeigen. „Wasser kann unter Umgebungsdruck oder Vakuum oberhalb von -157 Grad Celsius in flüssiger Form auftreten“, freut sich Thomas Lörting über diesen Durchbruch. Es handelt sich bereits um den zweiten, sogenannten Glasübergang, der an der Universität Innsbruck für Wasser gefunden wurde. Schon vor 30 Jahren hatte der inzwischen verstorbene Chemiker Erwin Mayer an der Universität Innsbruck den Glasübergang von niederdichtem, amorphem Eis bei -137 Grad Celsius gefunden.
Bedeutung für die Entstehung größerer Moleküle?
Diese neue Entdeckung könnte für unser Verständnis der Evolution von Molekülen und womöglich auch die Frage nach der Entstehung von Leben im Weltall von Bedeutung sein. Denn flüssiges Wasser gilt gemeinhin als das Lösungsmittel für chemische Reaktionen schlechthin, als Geburtsstätte der Moleküle des Lebens. Wenn Wasser bei sehr viel tieferen Temperaturen als bisher angenommen flüssig auftritt, wirft das ein neues Licht auf diesen Prozess. Auch kann die aktuelle Arbeit neue Ansatzpunkte für die Erklärung der vielen anormalen Eigenschaften des Wassers liefern. Das Team um Roland Böhmer und Thomas Lörting will nun das zähflüssige Wasser genauer untersuchen und dessen Eigenschaften näher charakterisieren. „Wir wollen wissen, wie sich andere Stoffe in diesem Wasser lösen lassen und wie die um ein Viertel höhere Dichte des Wassers die Reaktionsfähigkeit verändert“, sagt der Chemiker. „Hier öffnet sich uns ein neues Forschungsfeld, das Arbeit für weitere 30 Jahre liefert“, ist Thomas Lörting überzeugt.
Die aktuelle Arbeit entstand im Rahmen der Forschungsplattform Material- und Nanowissenschaften an der Universität Innsbruck und wurde vom Europäischen Forschungsrat (ERC), dem österreichischen Forschungsförderungsfonds (FWF) und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) finanziell unterstützt. Der Bessel-Preis der Humboldt-Stiftung ermöglicht Thomas Lörting mehrere Gastmonate in Dortmund – erstmals im September 2013.
Publikation: Water’s second glass transition. Katrin Amann-Winkel, Catalin Gainaru, Philip H. Handle, Markus Seidl, Helge Nelson, Roland Böhmer, and Thomas Loerting. Proceedings of the National Academy of Sciences 2013. DOI: 10.1073/pnas.1311718110