„Lampedusa ist ein Vorzeige-Europa“
Seit Oktober 2013 ist Prof. Gilles Reckinger an der Universität Innsbruck zur Verstärkung des kürzlich gegründeten geisteswissenschaftlichen Forschungsschwerpunkts „Kulturelle Begegnungen – Kulturelle Konflikte“ tätig. Seine Professur wurde von der Stiftung Südtiroler Sparkasse gestiftet. Ein großes Anliegen ist ihm die verborgene und unsichtbare Seite der Migration. Dazu forscht er seit 2009 auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa.
„Wie lebt man in Lampedusa?“ Diese scheinbar simple Fragestellung hat Gilles Reckinger ins Zentrum seiner Forschungsinteressen der letzten Jahre gestellt. Nachdem er die mediale Berichterstattung über Lampedusa mitverfolgt hat, entschloss er sich im Jahr 2009, zu einer Forschungsreise auf diese Insel aufzubrechen. Gemeinsam mit seiner Frau und einer Videokünstlerin stellte er schnell fest, dass die Insel vollkommen anders ist, als sie in der Öffentlichkeit dargestellt wird.
Kein Platz für Rassismus
Anders als die Medien stellte Reckinger nicht die Migrantinnen und Migranten in den Mittelpunkt seiner Auseinandersetzungen, sondern die Lampedusani, die Einheimischen, die auf der Insel leben. Trotz der schwierigen Lebensbedingungen auf Lampedusa sieht Reckinger diese Insel als Vorbild und „wie ein Laborbeispiel“ für ein interkulturelles Zusammenleben. Auf der kleinen Insel ist kein Platz für rassistische Projektionen. Die etwa 5.000 Lampedusani fühlen sich laut Reckinger von den jährlich bis zu 30.000 ankommenden Migrantinnen und Migranten nicht überschwemmt, wie es in einigen Berichten dargestellt wird. Die lokale Bevölkerung kämpft selbst täglich mit den Tücken des Meeres, da sie auf die Lebensmittelversorgung mittels einer Fähre vom Festland angewiesen ist. „Weil es so ein alter Schrotthaufen ist“, kann diese Fähre im Winter oft auch wochenlang ausbleiben. Das Meer ist ein ständig präsenter Teil des Lebens auf Lampedusa und jeder, der aus dem Meer gerettet wird, soll die Hilfe bekommen, die er braucht.
Das Leben an der Grenze
Die Grenze und das Leben zwischen mehreren Ländern, Sprachen und Kulturen prägte Gilles Reckinger schon als Kind, da er selbst in einem kleinen Dorf an der Grenze zu Belgien in Luxemburg aufwuchs. Sein Interesse für die Menschen die immer etwas „dazwischen“ sind, ist daher bei ihm schon früh entstanden. Die Migrantinnen und Migranten auf Lampedusa sind für ihn die Vorzeige-Europäer, „weil sie das machen, was die Europäer letztendlich nicht machen – nämlich über Grenzen schauen.“ Das Kommen und Gehen und das Überschreiten von Grenzen ist für die Menschen auf Lampedusa alltäglich.
In seiner aktuellen Forschung beschäftigt er sich wieder mit dem Süden Italiens. Im Fokus stehen diesmal Migrantinnen und Migranten, die über Lampedusa nach Europa gekommen sind und auf Obstplantagen in Kalabrien als Arbeiter unter unmenschlichen Bedingungen Ihr Auskommen finden müssen.
Zur Person:
Prof. Gilles Reckinger, geboren 1978 in Luxemburg, studierte in Graz Kulturanthropologie, Europäische Ethnologie und Soziologie. Nach seiner Dissertation in St. Gallen und Forschungsaufenthalten in Genf, Québec und Montreal verbrachte er drei Jahre als selbstständiger Forscher in Luxemburg, bevor er wieder nach Österreich zurückkehrte. Seit Oktober letzten Jahres ist er an der Universität Innsbruck am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie in einer Stiftungsprofessur für interkulturelle Kommunikations- und Risikoforschung tätig. Diese Stelle wird von der Stiftung Südtiroler Sparkasse finanziert.
♫ Gilles Reckinger im Gespräch (soundcloud-Link, 9.26min)
Heute Donnerstag, den 16. Jänner 2014 hält Univ.-Prof. Mag. Dr. Gilles Reckinger seine Antrittsvorlesung an der Universität Innsbruck.
Thema: Jenseits des Alarmismus. Lampedusa und die Notwendigkeit eingreifender Wissenschaft.
Zeit: 18:00 Uhr
Ort: Gipsmuseum/Archäologisches Museum, 3. Stock, Hauptgebäude, Innrain 52, 6020 Innsbruck
Einladung:
https://www.uibk.ac.at/fsp-kultur/dokumente/entwurf02-el-antrittsvorlesung-gilles-reckinger.pdf