Ein Nachruf auf Ernst von Glasersfeld (1917 - 2010)
Ernst von Glasersfeld war ein Grenzgänger zwischen Sprachen und Kulturen. Seine vielfältigen Interessen und seine intellektuelle Unabhängigkeit von fachspezifischen Disziplinierungen haben es ihm ermöglicht, sehr eigenständige Wege zu gehen. Dies wird auch in seinen "Unverbindlichen Erinnerungen" (Folio Verlag, 2008) deutlich. Rückblickend hat er immer wieder die Bedeutung der Sprache und des Aufwachsens in verschiedenen Kulturen für die Entwicklung seiner Wissenstheorie betont.
Ernst von Glasersfeld wurde am 8. März 1917 in München geboren. Sein Vater Leopold war k.u.k. Diplomat, seine Mutter Helene eine begeisterte Sportlerin und Skirennläuferin. Seine Kindheit verbrachte er überwiegend in Meran, wo er dreisprachig aufwuchs (Deutsch, Englisch, Italienisch). In einem Internat in Zuoz in der Schweiz kam Französisch als vierte Sprache dazu. Seine ersten Mathematik-Studien führten ihn an die ETH in Zürich. Nach einem kurzen Studienaufenthalt in Wien hat er Österreich angesichts der nationalsozialistischen Entwicklungen 1937 verlassen.
Er arbeitete u. a. als Schilehrer in Australien und in St. Anton, auf einem Bauernhof in Grovedale südlich von Dublin, im Zentrum für Kybernetik an der Universität Mailand und als Journalist in Südtirol. Von 1970 bis 1987 war er Professor für kognitive Psychologie an der University of Georgia. Nach seiner Emeritierung 1987 arbeitete er mehrere Jahre zusammen mit Jack Lochhead am Scientific Reasoning Research Institute an der University of Massachusetts.
Bekannt geworden ist er mit seinen Arbeiten zur Begriffsanalyse und zur Entwicklung von "Yerkish", einer Sprache zur maschinenunterstützten Verständigung mit Schimpansen. Berühmt geworden ist er mit seiner Konzeption des Radikalen Konstruktivismus. Diese beinhaltet im Kern eine Theorie des subjektgebundenen, aktiven Wissensaufbaus und der adaptiven Funktion kognitiver Prozesse im Dienste der Organisation der Erlebenswelt. Dabei wird die klassische Idee der Wahrheit und der Annäherung an eine ontologische Realität durch das Konzept der Viabilität abgelöst.
Seine Arbeiten wurden in verschiedenen Disziplinen wie der Psychologie, der Philosophie, der Pädagogik, der Literaturwissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Medienwissenschaft und der Linguistik rezipiert. Anwendungen und Weiterentwicklungen werden auch in der Mathematikdidaktik, in der Managementlehre und der Familientherapie auf breiter Basis diskutiert. Seine Sprache ist erfrischend klar und verständigungsorientiert, was sich an beliebigen Beispielen aus seinen zahlreichen Veröffentlichungen und an seinem differenzierten Umgang mit Kritiken leicht zeigen lässt.
In den letzten Jahren hat Glasersfeld viele Auszeichnungen erhalten, so u. a. die Ehrendoktorate an den Universitäten Klagenfurt (1997) und Quebec (2002), den Gregory Bateson Preis (2005), das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst (2007) und das Goldene Ehrenzeichen der Stadt Wien (2009). Zu unserer besonderen Freude, erhielt er 2008 auch ein Ehrendoktorat der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. In seiner Rede am 17.4.2008 bemerkte Glasersfeld, dass neben den akademischen Verbindungen die "Stadt am Inn" auch etwas Heimatliches für ihn hat, denn "sie war Jahre lang der Ausgangspunkt für unsere schönsten Skifahrten in den österreichischen Gletschern".
Die letzte Gletschertour machte er im Alter von 81 Jahren auf die Ötztaler Wildspitze. Als Übungsgelände diente für viele Jahre der Schihügel hinter seinem Haus in Leverett.
Wissenschaftlich blieb er bis kurz vor seinem Tod aktiv. Auch wenn er immer wieder von der Inkommensurabilität des poetischen und des rationalen Wissens gesprochen hat, so hat er zugleich betont, dass es darum gehe, beiden Bereichen angemessen Raum zu geben. Wie das möglich ist, zeigte uns Glasersfeld nicht nur in seinen Schriften, sondern auch in seiner alltäglichen Lebenspraxis und nicht zuletzt bei der Bewältigung schwieriger Lebenslagen.
Ernst von Glasersfeld war einer der einflussreichsten Denker der Gegenwart. Er hat seine Philosophie in höchst überzeugender Weise gelebt, und er war ein außergewöhnlicher Mensch, eine der eindrucksvollsten Persönlichkeiten, denen wir je begegnet sind.
Die Leopold-Franzens-Universität betrauert das Ableben ihres Ehrendoktors und bleibt ihm in dankbarer Erinnerung verbunden.
(Theo Hug und Karlheinz Töchterle)