„In the beginning all the world was America“
John O’Neill ist einer der wenigen analytisch ausgebildeten Philosophen, die ihre Fähigkeiten auf Fragen des öffentlichen Interesses und der öffentlichen Ordnung richten. Im Falle von O’Neill beinhaltet dieses praktische Engagement Umweltbewertungen für das Europäische Parlament und die Mitarbeit an einem Bericht über ‚Social, Health, Environmental and Trade Objectives on the Global Stage’ für das Büro des (UK) Primärministers.
Gleich zu Beginn seiner Rede stellte er ein Paradoxon in den Raum: Abgesehen von extremen Nationalisten ist niemand zu 100 Prozent gegen die Globalisierung, nicht einmal die so genannten „Globalisierungsgegner“. Die eigentliche Frage, die die Geister scheidet, ist die nach der Art von Globalisierung, die man befürwortet: freien Handel; Menschenrechte; einen geregelten Rahmen, der sozialen Schutz gegenüber Marktexzessen bietet; etc. Der Kern seines Vortrags war die Frage „Was soll einer kommerziellen Nutzung zugänglich sein und was nicht?“ Soll es einen Markt für menschliche Organe geben? Oder soll es uns möglich sein, unsere Stimmen via eBay anzubieten und zu versteigern? Ist es gerechtfertigt eine parlamentarische Anfrage oder ein politisches Amt käuflich zu erwerben?
Überzeugte Marktbefürworter beantworten all diese Fragen mit einem klaren „Ja“. Sie stimmen auch der Aussage John Lockes zu: „am Anfang war die ganze Welt Amerika“, soll heißen frei verfügbar zur Ausbeutung ohne Kompensierung der indigenen Bevölkerung. Diese bestreitet zwar ihren Lebensunterhalt mittels der vorhandenen Ressourcen ihrer direkten Umgebung, bearbeitet das Land jedoch nicht (The Second Treatise of Civil Government, 1690, 5. Kap. § 49).
O’Neill widerspricht: Seiner Meinung nach birgt diese Sichtweise die Gefahr, dass „Beziehungen, Haltungen, Evaluationsformen und Normen, die für Märkte typisch sind, auf andere Bereiche übertragen werden könnten, selbst wenn diese nicht unmittelbar marktartigen Beziehungen unterliegen“. Gleichzeitig erkennt er aber auch, dass diejenigen, die sich für Beschränkungen des freien Marktes aussprechen, in Erklärungsnot gelangen. So können sie sich für ‚thin justifications’, also universale Rechtfertigungen, entscheiden, wie Kant dies in seiner Unterscheidung zwischen Preis und Würde tat. Doch kann hier die „dünne“ Rechtfertigung rasch zu dünn werden und die Würde zu einer reinen Abstraktion des rationalen, autonomenSubjekts verkommen.
Ein solches „dünnes“ Argument versetzt uns z.B. nicht in die Lage gegen die so genannte „Biopiraterie“, also die Patentierung von genetischem Material in großem Stil durch multinationale Konzerne zu argumentieren. Auf der Suche nach „dickeren“ Argumenten für die Eindämmung des freien Marktes riskiert man jedoch in Relativismus zu verfallen und geflissentlich zu übersehen, wie repressiv regionale Kulturen sein können.
John O’Neill versucht in seiner Analyse, die demnächst in seinem Buch ‚Markets, Deliberation and Environment’ erscheint, die Polarisierung der Argumentationsformen ‚thick’ und ‚thin’ zu überwinden und eben nicht von einem Extrem (für die Modernisierung der Märkte) zum anderen (romantische Anti-Modernisierungshaltung) zu verfallen. Er stellt die scharfe Abgrenzung zwischen „dicken“ Moralvorstellungen (z.B. mutig/feige) und „dünnen“ (z.B. gut/schlecht) in Frage. So werden etwa Bestimmungen darüber, was auf den Markt gebracht werden kann und was nicht, häufig durch lokale Sitten oder Gewohnheiten bestimmt (in den USA besteht die Möglichkeit eine Leihmutterschaft anzubieten, in Europa ist dies jedoch verpönt) und appellieren an universale Grundsätze, etwa die Rechte der Frau über ihren Körper oder das eigentliche Wesen der Eltern-Kind-Beziehung. Selbst wenn wir akzeptieren, dass Märkte ‚grundsätzlich gewissenlos’ (‚in principle unprincipled’) sind, so trifft dies nicht auf die Frage nach deren richtiger Beschränkung zu.
Die rund 60 ZuhörerInnen der WuV-Veranstaltung waren nicht nur ZeugenInnen eines konzeptuell anspruchsvollen Vortrags, sondern auch einer neuartigen Herangehensweise in doppelter Hinsicht: Erstens wurde ein analytisch-philosophischer Ansatz auf nicht-triviale Fragen von großer politischer Relevanz angewandt (z.B. hat nun die indigene Bevölkerung legitimen Ansprüche auf lokales genetisches Material und Wissen?). Zweitens wurde für eine ökologische und soziale Verantwortlichkeit argumentiert, die sich um analytische Strenge bemüht, anstatt sich auf moralische Selbstsicherheit zu verlassen. John O’Neill wurde hier sehr stark von Otto Neurath beeinflusst, einem Mitglied des Wiener Kreises.
Text: Arbeitskreis für Wissenschaft und Verantwortlichkeit