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Angriff auf die bürgerliche Moral?

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2014-02-22

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Gedanken zum 6. Sonntag im Jahreskreis (LJ A; 2014)

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Lesungen: (Sir 15,15-20); 1 Kor 2,6-10; Mt 5,17-25.27-28.33-34a.37

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Liebe Gläubige,

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es ist ja inzwischen fast Mode geworden, über die bürgerliche Moral herzuziehen. Was in den 60er und 70er Jahren noch „linke Revoluzzer“ propagierten, ist inzwischen schon fast Mainstream: bürgerlich ist spießig, bürgerliche Moral ist lust- und spaßfeindlich – und dazu auch noch verlogen, so hören wir ja oft. Und jetzt, mit dem neuen Papst, scheint es vielen so, als würde das vielleicht sogar die Kirche kapieren und nicht mehr so engstirnig auf Moral pochen. Damit scheint die Kirche ja auch nur etwas wiederzugewinnen, was Jesus selber schon in der Bergpredigt propagiert hat. Ist nicht auch diese ein Angriff auf die bürgerliche Moral, vor allem dann, wenn sie sich als religiös geboten ausgibt?

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Bevor wir das überlegen können, möchte ich zunächst die bürgerliche Moral ein wenig in Schutz nehmen gegen diese Angriffe. Ist es nicht so, dass unsere Welt ein wesentlich besserer und gerechterer Ort wäre, wenn sich mehr Menschen an die so gescholtene bürgerliche Moral hielten? Wenn sie andere nicht ermordeten, wenn sie nicht die Ehe brechen würden, wenn sie sich an die Eide, die sie geschworen haben, hielten? Wenn sie sich höflich und korrekt anstatt rüpelhaft und egoistisch benehmen würden – auch wenn sie dann vielleicht nicht ganz ehrlich sind? Ist es nicht besser, mit etwas Diplomatie höflich zu sein, als andere dauernd mit seiner ehrlichen Kritik zu verletzen? Und mit der Spießigkeit ist das ja so eine Sache: Geht nicht unser Sehnen und Trachten danach, dass Ruhe und Frieden herrschen, dass unsere Familien sicher und geborgen sind, dass unsere Kinder behütet und gebildet werden, dass wir selbst Arbeit, Wohnung und geregeltes Einkommen haben? Wünschen wir uns diese Sicherheit nicht? Und wenn sie dann eingetreten ist, dann wird sie als Spießigkeit beschimpft? Das ist doch wohl nicht ganz konsequent. Warum aber scheint es doch so zu sein, dass Jesu Rede heute ein Angriff auf diese Moral darstellt, auch wenn er sie damals nicht gegen ein Bürgertum in unserem Sinn richtete, sondern gegen die Gesetzesmoral der Pharisäer?

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Eine erste Beobachtung: Jesus richtet sich nicht deshalb gegen die Moral der Pharisäer, weil er überhaupt gegen Moral und Rechtschaffenheit wäre oder weil er stattdessen liberale Freizügigkeit verkünden würde. Ganz im Gegenteil: Nicht einmal das kleinste Gebot soll aufgehoben werden. Und die Kritik an den Pharisäern ist nicht, dass sie zu moralisch sind, sondern dass sie zu wenig gerecht sind. Nicht ein Zuviel an Moral, sondern ein Zuwenig wirft Jesus ihnen vor.

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Der Grund dafür ist, dass ihre Moral auf Äußerlichkeiten abzielt, Jesus aber eine bekehrte innere Einstellung erstrebt. Nicht nur Morden, sondern auch Zürnen, nicht nur Ehebruch, sondern auch der geile Blick, nicht nur Meineid, sondern jede Unwahrhaftigkeit prangert er an. Wie sollen wir damit umgehen?

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Was vor hundert Jahren noch ein Bürgerschreck war, ist heute selbst Teil unserer bequemen Bürgerlichkeit – nämlich die Psychoanalyse und Tiefenpsychologie. Und die Seelendoktoren schlagen die Hände über dem Kopf zusammen über die Skrupel produzierende Unterdrückungsmoral, die hier verkündet wird. Für seine Gefühle kann man doch nicht verurteilt werden! Für sie kann man doch gar nichts! Es reicht doch, wenn wir unsere Taten kontrollieren, wenn ich den Mann, auf den ich wütend bin, nicht töte, sondern eben nur wütend bin; wenn ich die Frau, die ich – wie man so schön sagt – nicht von der Bettkante stoßen würde, erst gar nicht auf die Bettkante sitzen lasse, aber vorstellen darf ich es mir doch wenigstens! So meinen wir heute sagen zu müssen. Sagt das nicht auch das alte, sehr bürgerliche Revolutionslied: „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten?“ Ist die Antwort darauf: „Gott errät sie nicht nur, er kennt sie alle, und vor ihm musst du zittern!“? Kann Jesus das gemeint haben?

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Kann er nicht. Denn sonst hätte er sich gegenüber Menschen, die tatsächlich gesündigt haben, anders verhalten: er hätte nicht mit der Frau am Jakobsbrunnen, die fünf Männer hatte, reden dürfen; er hätte nicht beim Kollaborateur Zachäus zu Gast sein und nicht den Zöllner Matthäus zu seinem Jünger machen dürfen – und der hätte dann Jesu Bergpredigt nicht aufschreiben können. Vor allem hätte Jesus nicht zu der in flagranti ertappten Ehebrecherin, nachdem er sie vor der Steinigung gerettet hatte, sagten dürfen: „Auch ich verurteile dich nicht.“ (Joh 8,11) Diese Aussage beweist, dass er seine Bergpredigt anders gemeint hat als eine Rede, die Menschen Skrupel für ihre Gefühlsregungen machen will. Gerade die Episode mit der Ehebrecherin bringt es auf den Punkt: Die sie steinigen wollen, leben ihre pharisäische, auf das Außen gerichtete Moral – und Jesus weist sie darauf hin, dass nur der einen Stein werfen dürfe, der selber ohne Sünde sei. Dann, als niemand geworfen hat, sagt er diesen Satz: „Auch ich verurteile dich nicht.“

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Es ist nicht verkehrt, für Treue in der Ehe einzutreten; daran gibt es nichts auszusetzen. Aber, wenn die Untreue dann doch passiert, kommt es darauf an, mit welchem Maßstab man urteilt: Mit dem Maßstab dessen, der sich als gerecht versteht, weil er noch nie die Ehe gebrochen hat, oder mit dem Maßstab dessen, der weiß, wie schnell es gehen kann, weil er auch schon öfter zumindest im Herzen Ehebruch begangen hat? Nicht das Gefühl, nicht der Gedanke soll verurteilt und gar Anlass zu Skrupeln werden; aber die Tatsache, dass wir immer wieder Gedanken und Gefühle haben, die uns so leicht ins Unrecht setzen würden, wenn wir ihnen nachgäben, soll uns demütig und verständnisvoll machen in der Beurteilung derer, die nachgegeben haben. Nicht, weil sie nichts Schlimmes getan hätten, sondern weil auch wir zugeben müssen, dass wir schwach sind.

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Und das ist nun tatsächlich etwas, das die bürgerliche Moral nicht kennt. Auch sie unterscheidet zwischen schuldig und unschuldig nach dem äußeren Tun. Und wer nach diesem Kriterium unschuldig ist, der kann herabschauen auf die Schuldigen, sich überlegen fühlen und ihre strenge Bestrafung fordern. Und nicht selten rufen die am lautesten nach der strengen Bestrafung, die selber gefährdet sind, genau den gleichen Fehler zu machen – wohl nicht einmal aus Verlogenheit, wahrscheinlich aus Angst, selber schuldig zu werden. Und aufgrund dieser Angst wollen sie sich selbst die Hürde erhöhen, damit sie ja nicht fehl gehen.

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Jesus empfiehlt uns genau die umgekehrte Strategie: „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden.“ (Mt 7,1-2) Nicht die Erhöhung der Horrorschranke macht uns zu besseren Menschen, sondern das Eingeständnis menschlicher Schwachheit. Und dies setzt voraus, dass unsere Gerechtigkeit größer ist als die der Pharisäer, größer als die der bürgerlichen Moral: Wie jene, sollen wir klar erkennen, was gut und gottgefällig ist und was nicht; darüber hinaus sollen wir aber ebenso klar erkennen, wie gefährdet wir alle sind, das Falsche zu tun, und das sollte uns befähigen, jenen, die es tatsächlich getan haben, einen Weg zurück zu ermöglichen anstatt sie davonzujagen und auszugrenzen. Die christliche Moral, die kirchliche Moral, sie sollte diesem Vorbild folgen – und wenn Papst Franziskus sie dem ein wenig näher bringt, so leistet er Großes. Wir aber, wir sollten unsere eigene Moral dem näher bringen in der Nachfolge Christi, von dem der Hebräerbrief sagt: „Wir haben ja nicht einen Hohenpriester, der nicht mitfühlen könnte mit unserer Schwäche, sondern einen, der in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist, aber nicht gesündigt hat.“ (Hebr 4,15). Der Hohe Priester Jesus hat daraus nicht die Konsequenz gezogen, dass er uns, da er nicht gesündigt hat, verurteilen kann. Vielmehr zieht er daraus die Konsequenz: „Auch ich verurteile dich nicht.“

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