- Leseraum
| Erben der Gewalt und Miterben Christi. 1914-2014Autor: | Sandler Willibald |
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Veröffentlichung: | |
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Kategorie | artikel |
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Abstrakt: | |
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Publiziert in: | Leicht gekürzt publiziert in J. Ernesti u.a. (Hg.), Erben der Gewalt. Zum Umgang mit Unrecht, Leid und Krieg (Brixner Theologisches Jahrbuch 5). Innsbruck 2015, 171-190. |
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Datum: | 2015-08-14 |
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Inhalt1
| VB: Dieser Artikel wurde im September 2014 fertiggestellt und berücksichtigt demgemäß nicht spätere geschichtliche Entwicklungen. Alle Hyperlinks wurden zuletzt überprüft am 14.8.2015. | 2
| 2014 ist ein Jahr voller Gedenken. Vor 100 Jahren schlitterten die europäischen Nationen in einen Weltkrieg, der sich als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts entpuppte. Trotz des daraus erwachsenen Friedenswillens kam es vor 75 Jahren zum noch opferreicheren Zweiten Weltkrieg. Vor 25 Jahren atmete ein großer Teil der Welt auf, als der Mauerfall das Ende des Kalten Kriegs einläutete. Hoffnungen auf eine globale Friedenszeit wurden allerdings durch die folgenden Jugoslawienkriege schnell gedämpft. 20 Jahre sind seit dem Völkermord in Ruanda mit bis zu einer Million Toten vergangen, und vor 13 Jahren erschütterten die Terroranschläge des elften September das Vertrauen der westlichen Welt, sicher zu sein. Die unmittelbare Reaktion war ein forcierter „Krieg gegen den Terrorismus“, der diesen nicht besiegte, sondern sogar noch befeuerte. So wurde das vielfache Gedenkjahr 2014 zugleich zu einem Jahr voller Gewalt und Schrecken. Manche Problematik in den Konfliktzonen Ukraine, Syrien – Irak, Israel – Palästina, Libyen, Nigeria und anderen gebeutelten Nationen erweist sich als Altlast früherer Konflikte, so dass wir uns angesichts neuer Kriegs- und Bedrohungsformen als Erben der Gewalt sehen müssen. | 3
| Wie geht damit zusammen, dass Christen – tief verstrickt in eine Geschichte sich fortzeugender Gewalt – sich zugleich als „Erben Gottes und Miterben Christi“ (Röm 8,17) begreifen und damit der entschiedenen Gewaltlosigkeit Jesu verpflichtet sind? | 4
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| Maßlos war im Ersten Weltkrieg nicht nur die Gewalt, sondern auch die Verblendung: | 7
| die Illusion des Deutschen Reichs und von Österreich-Ungarn, einen gerechten Verteidigungskrieg zu führen, trotz eines Angriffskriegs gegen Frankreich, bei dem völkerrechtswidrig die neutrale Staaten Belgien und Luxemburg überrannt und dort Kriegsverbrechen begangen wurden;1 | 8
| die Illusion, dass dieser Krieg schnell und leicht gewonnen werden könne. Mit Parolen wie „Ausflug nach Paris“ und „Bis Weihnachten sind wir wieder zurück“ zogen Heere von deutschen Freiwilligen in ein unabsehbares Abenteuer;2 | 9
| eine Kriegsbegeisterung, die fast alle gesellschaftlichen Kräfte erfasste, unter dem Trugbild eines heiligen Ereignisses umfassender Verbrüderung: Dieses als „Augusterlebnis“ bezeichnete Massenphänomen war bei Bürgern, Gebildeten und Führenden noch stärker als bei Arbeitern und Landbevölkerung, die die Entbehrungen eines Kriegs fürchteten;3 | 10
| verbunden damit die religiöse Illusion, dass dieser Krieg ein Auftrag und Geschenk Gottes sei. Gott habe dem Kaiser das Schwert in die Hand gegeben hat, damit er das göttliche Zorngericht an den Feinden vollziehe; | 11
| Als der Krieg sich in die Länge zog und sich als Moloch entpuppte, dem man maßlose Opfer an Menschenleben und materiellen Mitteln bringen musste, wurden neue Formen von Verblendung ideologisch propagiert: | 12
| die Illusion, dass der Krieg eine heilige Pflicht sei und gewonnen werden könne, wenn man nur alles einsetzte. Das religiöse Ideal einer Ganzhingabe an Gott wurde hier in einer Weise pervertiert, dass es die Ideologie eines totalen Krieges stützte; | 13
| das illusionäre Versprechen, dass ein vollständiger Sieg für alle Verluste entschädigen würde. Diese Erwartung blockierte Friedensschlüsse, solange nicht ein vollständiger Siegfriede – mit der Möglichkeit einseitiger Schuldzuweisungen und aufoktroyierter Reparationen – in Aussicht stand; | 14
| eine religiöse Selbstimmunisierung mit der wahnwitzigen Behauptung, dass auch Leiden, Tod und selbst eine katastrophale Niederlage das anfängliche kriegerische Erwählungsbewusstsein nicht in Frage stellten, weil sie das Volk dem von den Juden gekreuzigten Christus gleichgestalten würden. | 15
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| Mehr noch als beim einfachen Volk war diese Verblendung bei gebildeten und auch führenden Schichten zu finden. In Reden, Zeitungsartikeln und Büchern verbreiteten Politiker, Schriftsteller und nicht zuletzt kirchliche Repräsentanten und Theologen – Katholiken in Österreich-Ungarn, Protestanten im Deutschen Reich – eine Kriegsideologie, die die Mehrheit hören wollte und die auf diese Weise die eigene Popularität steigerte. | 17
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| Ein extremes Beispiel für damalige Verirrungen christlichen Denkens ist das „Kriegsvaterunser“, welches der protestantische Pädagoge, Pfarrer und religiöse Schriftsteller Dietrich Vorwerk in seinem populären Gebetbüchlein für Soldaten (mit dem bezeichnenden Titel: Hurra und Halleluja) publizierte: | 19
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„Vater unser aus Himmelshöhen Eile, den Deutschen beizustehen, Hilf uns im heiligen Kriege! Laß deinen Namen sternengleich Uns vorleuchten, dein deutsches Reich Führ zum herrlichsten Siege! Wer wird unter den Siegern stehn? Wer wird ins dunkle Schwertgrab gehen? Herr, dein Wille geschehe! Ist auch kärglich des Krieges Brot, Schaff nur täglich den Feinden Tod Und zehnfältiges Wehe! In barmherziger Langmut vergib Jede Kugel und jeden Hieb, Die wir vorbeigesendet! In die Versuchung führe uns nicht, Daß unser Zorn dein Gottesgericht Allzu milde vollendet! Uns und unserem Bundesfreund Gib Erlösung vom höllischen Feind Und seinen Dienern auf Erden! Dein ist das Reich, das deutsche Land; Uns muß durch deine gepanzerte Hand Kraft und Herrlichkeit werden!“4]
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| Wie konnten ausgebildete Theologen die eigene Nation mit dem Gottesreich und die Kriegsgegner mit Feinden Gottes gleichsetzen? Wie die Bitte um das tägliche Brot mit „der Feinde Tod“ zusammenreimen? Wie konnte man allen Ernstes die Vergebungsbitte des Vater unser darauf beziehen, dass man „in Schuss und Hieb“ den Feind verfehlt hat? Und wie die eigenen Soldaten zum ausführenden Arm eines Gottesgerichts erklären? Bestürzend ist, dass derart blasphemische Pervertierungen von einem Theologen ernst gemeint wurden, und dass sich die Kritiker nicht fanden, die eine solche Publikation unterbinden konnten,5 vor allem aber, dass ein solches Machwerk zahllosen Soldaten in den Krieg mitgegeben wurde, sodass sie ausgerechnet durch das Gebet weiter radikalisiert wurden. | 21
| Auf diese Weise wurde der Erste Weltkrieg zur gescheiterten Bewährungsprobe und damit zum Selbstgericht für Christen, Kirchen und auch für etablierte Theologien.6 Versagt hatte in der katholischen Kirche offensichtlich die traditionelle Lehre vom gerechten Krieg, mit der die Bischöfe ein höchst fragwürdiges militärisches Unternehmen legitimiert hatten.7 Dramatischer verlief die Geschichte der im Vorkriegs-Protestantismus dominierenden liberalen Theologie, die durch den Ersten Weltkrieg in eine tiefe Krise gestürzt wurde. Ein sprechendes Beispiel für die Problematik, um die es ging, gibt die Geschichte des führenden liberalen Theologen Adolf von Harnack. In seinem populären Büchlein „Das Wesen des Christentums“ (1900) hatte er die politisch-eschatologische Dimension von Jesu Verkündigung – eines Kampfes gegen Mächte und Gewalten – konsequent als zeitbedingt ausgeblendet, sodass nur eine individualistisch-moralische Christusbotschaft übrig blieb. Diesem massiven blinden Fleck entsprach es, dass der politisch einflussreiche und um Ausgewogenheit bemühte Theologe sich von der Kriegsbegeisterung am Anfang des Ersten Weltkriegs mitreißen ließ und sie selber anfachte.8 Für Kaiser Wilhelm II. entwarf er9 dessen „Aufruf an das deutsche Volk“, der Deutschland als Friedensnation darstellte, denen neidische Feinde einen Verteidigungskrieg aufgezwungen hätten.10 Weiters wäre hier der „Aufruf der 93“ „An die Kulturwelt“ zu nennen, der von Adolf von Harnack mit unterzeichnet wurde. Vgl. dazu: Rüdiger vom Bruch, Aufruf der 93, in: G. Hirschfeld, G. Krumreich, I. Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, 356-357. Bei dieser Leitfigur der liberalen Theologie zeigte sich eine extreme Verblendung im Bereich politischer Einschätzung, die mit einem massiven blinden Fleck in der Theologie offenbar zusammenhing. Für seinen Schüler Karl Barth wurde das zum Anlass, mit seinem Lehrer und mit dieser Richtung der Theologie radikal zu brechen. Er wurde zum wichtigsten Initiator der dialektischen Theologie und später für einen theologisch begründeten Widerstand gegen den Nationalsozialismus – durch die Bekennende Kirche – wichtig. | 22
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| Im Gefolge des Ersten Weltkriegs mit seinen zahllosen Toten, Kriegsversehrten und maßlosen Zerstörungen entstand ein breites Bedürfnis nach einem beständigen Frieden. Der Völkerbund wurde gegründet, und in Deutschland wurde „Nie wieder Krieg“ zu einer Parole, die an gewerkschaftlich unterstützten Antikriegstagen Hunderttausende auf die Straße brachte.11 | 24
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| Wie war es möglich, dass es dennoch bereits zwei Jahrzehnte später zu einem weiteren Weltkrieg mit noch höheren Opferzahlen kam? Trotz allen Friedenswillens scheiterten die Nationen an einem Erbe der Gewalt, das vom Ersten Weltkrieg unverarbeitet zurückgeblieben war: | 26
| In einem Diktatfrieden (Versailles und Saint Germain) hatten die Siegermächte der Versuchung nachgegeben, Deutschland und Österreich als Alleinschuldige zu stigmatisieren und so massive Gebietsabtretungen, Restriktionen und Reparationen zu legitimieren. | 27
| In Deutschland und Österreich wurden nicht nur diese aufgezwungenen Friedensbedingungen fast einhellig zurückgewiesen. Mittels ideologischer Konstruktionen wie der Dolchstoßlegende wurde das Faktum der Niederlage verleugnet, nach Schuldigen gesucht (u. a. das „internationale Judentum“) und die eigene Verantwortung verdrängt. Der ideologischen Radikalisierung des Nationalsozialismus war somit Tür und Tor geöffnet. | 28
| Paradoxerweise trugen Friedenswille und Angst vor einem neuen Krieg zur Eskalation in den Zweiten Weltkrieg mit bei. Sie verhinderten einen entschlossenen Widerstand, als Hitler 1936 entgegen bestehenden Verträgen das Rheinland remilitarisierte.12 | 29
| Als geschichtlich falsch erwies sich damals allerdings nicht eine friedenswillige und kriegerische Eskalationen vermeidende Politik, sondern eine Appeasement-Politik passiven Zulassens. Ein zugleich aktiv-konfrontierender und Gewalt möglichst vermeidender starker Mittelweg wurde im Gefolge des Ersten Weltkriegs durch ein unentschlossenes Pendeln zwischen beiden Extremen verfehlt. So überspannte die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets von 1926 (aufgrund von eher geringfügigen Rückständen bei deutschen Reparationsleistungen) den Konsens unter den alliierten Mächten, wodurch die französische Zurückhaltung gegenüber Hitlers Rheinlandbesetzung von 1936 – zusammen mit dem Zögern Großbritanniens – erst erklärbar wird. Frankreich wollte nicht (nochmals) in den Verdacht geraten, durch eine rückhaltlose Durchsetzung eigener Interessen einen neuen Krieg zu provozieren. | 30
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| Ein Erbe der Gewalt, das Zündstoff nicht nur für den Zweiten, sondern auch schon für den Ersten Weltkrieg gegeben hatte, bestand in einer lange gewachsenen Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland, die sich nicht nur militärisch und politisch, sondern auch kulturell austrug.13 | 32
| Ein Auslöser dafür waren die Napoleonischen Eroberungskriege. Für Preußen war die Schlacht von Jena (1806) – mit einer vollständigen Niederlage der Preußen und mit Napoleons triumphalem Einzug in Berlin – traumatisch. Für preußische Herrscher und für Militärstrategen (Carl von Clausewitz) wurde Napoleons Imperialismus und Nationalismus zu einem faszinierenden Feindbild, das man auch kopierte.14 Längerfristig beförderte das eine Industrialisierung, Militarisierung und Nationalisierung Preußens sowie der deutschen Länder. | 33
| Die Befreiungskriege gegen die französische Vorherrschaft (1813–1815) trugen zu einem deutschen Nationalismus in einigender Feindschaft gegen Frankreich bei. | 34
| In der Rheinkrise (1840) erhob Frankreich Ansprüche auf die linksrheinischen Gebiete, die es 1792 im ersten Koalitionskrieg erobert und später wieder freigegeben hatte. Das bewirkte in Deutschland einen massiven antifranzösischen Nationalismus. Patriotische Lieder wie das Deutschlandlied und die Wacht am Rhein verherrlichten das Deutschtum in einer einigenden Wehrhaftigkeit gegen den „welschen“ Franzosen.15 | 35
| Im Deutsch-Französischen Krieg (1870–1871) schlug Preußen mit einer deutschen Allianz Frankreich vernichtend, marschierte triumphal in Paris ein – wie einst Napoleon in Berlin – und verfügte in Versailles (und später in Frankfurt) einen Siegfrieden mit diktierten Gebietsabtretungen (Elsaß-Lothringen) und hohen Reparationsforderungen, welche Frankreich nachhaltig schwächten und für Deutschland einen immensen wirtschaftlichen Aufschwung ermöglichten. Auf der Grundlage dieses Sieges gegen Frankreich formte sich am 18. Jänner 1871 das Deutsche Kaiserreich, – mit der Kaiserkrönung im Spiegelsaal des Schlosses Versailles! | 36
| Im solcherart gedemütigten Frankreich wuchs in der Folge ein antideutscher Revanchismus, der mitentscheidend für den harten Diktatfrieden gegen Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg war, – keineswegs zufällig wiederum in Versailles. | 37
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| Vor dem Hintergrund der jahrhundertelangen Erbfeindschaft zwischen Frankreich und Deutschland erscheint vieles an der politischen Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart als ermutigend. Berücksichtigt man auch noch die Verwüstungen, die Deutschland in zwei Weltkriegen auf französischem Gebiet angerichtet hat, mutet es wie ein Wunder an, dass seit 1950 Frankreich und Deutschland in großer Einheit die treibenden Kräfte der europäischen Integration wurden.16 Mit der Europäischen Union wurde in Mitteleuropa, das über viele Jahrhunderte zahllose Kriege verursacht hatte, im 20. Jahrhundert ein Dauerfriede ermöglicht. | 39
| Bemerkenswert ist zudem die Ausweitung dieser Union über die Grenze des Eisernen Vorhangs, der jahrzehntelang Deutschland sowie Europa in zwei Hälften geteilt hatte, verbunden mit dem Ende des Kalten Kriegs. Auch dafür ist 2014 ein 25-jähriges Gedenkjahr. Die knapp darauf folgenden Zerfallskriege in Jugoslawien bestätigten allerdings den geradezu zynisch anmutenden Zusammenhang, dass ein großer Feind auch zusammenschweißt, und dass folglich Bürgerkriege drohen, wenn ein einigender Gegner abhanden kommt. Das ist zumindest dort der Fall, wo soziale Identität an den Außengrenzen durch Ausschluss anderer definiert wird, gemäß dem Motto: „Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.“17 Und genau das trifft für Nationalstaaten in einem hohen Maß zu. Einigungen können hingegen auch durch gemeinsame Projekte entstehen, z.B. in wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Das war von Anfang an der „Kitt“ für die deutsch-französische und europäische Einigung im 20. Jahrhundert. | 40
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| Zum Erbe der Gewalt, das bis in den Ersten Weltkrieg zurückreicht, zählt die willkürliche Konstruktion von künstlichen Nationen, die in der Folge Mühe hatten, eine stabile innere Ordnung aufzubauen, etwa der Irak und Syrien. Auch darauf ist die extreme Bedrohung in Kleinasien zurückzuführen, die 2014 durch die Vorstöße der islamistischen Milizen „Islamischer Staat“ in ungeahnter Massivität entstanden ist. Die Problematik von Staaten ohne funktionierende politische und rechtliche Ordnung („failed States“) wie Syrien und der Irak lässt sich zurückverfolgen bis zum Geheimabkommen von Sykes-Picot (1916) zwischen Frankreich und Großbritannien, in dem diese beiden Mächte große Gebiete des zerschlagenen Osmanischen Reichs in eigene Interessensbereiche aufteilten, – ohne Rücksicht auf ethnische Zugehörigkeiten und Stammesstrukturen, ohne Beteiligung der betroffenen Völker und entgegen dem Versprechen eines eigenen Staats, das Lawrence von Arabien arabischen Clans dafür gegeben hatte, dass sie sich im Kampf gegen das Osmanische Reich an der Seite Großbritanniens beteiligten. Die damals festgelegten Grenzziehungen und westlichen Abhängigkeiten („Mandate“) wurden am Ende des Ersten Weltkriegs weitestgehend bestätigt. Darauf gehen die künstlichen, Stammesgebiete durchschneidenden Staatsgrenzen zurück, die nun von den IS-Milizen mühelos überrannt werden. Nach der Abschaffung des osmanisch-islamischen Kalifats (1924) im Zuge der prowestlichen Säkularisierung des ehemaligen Osmanischen Reichs unter Kemal Atatürk, sowie nach immer wieder gescheiterten Versuchen, die Regionen mit – möglichst demokratischen – Nationalstaaten nach westlichem Vorbild zu ordnen, ist die Ausrufung eines islamischen Kalifats auch als Versuch zu verstehen, an früher erfolgreiche islamisch-imperialistische Modelle von überstaatlichen, theokratischen Gesellschaftsordnungen anzuknüpfen.18 Dieses Erbe einer kolonialistischen westlichen Gewalt konnten sich die Terrormilizen zunutze machen. Es wird wohl als destabilisierender Faktor weiterwirken, auch wenn das jetzige – von der islamischen Welt durchwegs nicht anerkannte – extrem gewalttätige „Kalifat“ verschwunden sein wird. | 42
| Wie bedrohlich ein radikaler Islamismus – mit kollektiven Identitätsbildungen aus der Kraft eines antiwestlichen Ressentiments – sein kann, wurde der westlichen Welt schlagartig mit den Terroranschlägen am 11. September 2001 bewusst. Die Vereinigten Staaten reagierten unter George Bush reflexhaft mit einem Krieg gegen den Terrorismus. Spätestens im Jahr 2014, angesichts der extremen Ausbreitung des ISIS-Dschihadismus, ist offensichtlich, dass der Terrorismus dadurch nicht besiegt, sondern vielmehr angefacht wurde. Die Tötung Osama bin Ladens schwächte zwar die Al Qaida, aber diese wurde mittlerweile durch eine noch radikalere Terrorbewegung überholt. Auch die Ausschaltung von anderen erklärten „Erzbösewichten“ wie Saddam Hussein im Irak und Muammar al-Gaddafi in Libyen brachten keinen Frieden, sondern hinterließen jeweils ein Machtvakuum – mit großen Mengen an Waffen und zahllosen arbeitslosen Soldaten – das unübersichtlichen Bürgerkriegen oder dem Überrennen durch terroristische Milizen nichts mehr entgegenzusetzen vermochte. So hat sich ein kriegerisches Engagement zur Überwindung von Gewalt und Terror und zur Stabilisierung von Regionen in Kleinasien, Afghanistan und Nordafrika durchwegs als kontraproduktiv erwiesen. Angesichts dieser Evidenz mutet es wie eine tragische Ironie der Geschichte an, dass der programmatisch um Frieden bemühte Barack Obama durch den Abzug der meisten Soldaten aus dem Irak zu dessen Destabilisierung beitrug und nun aufgrund der – so erst ermöglichten – exzessiven Gewalt von IS zu einer internationalen Allianz gegen den Terrorismus gezwungen ist, – dreizehn Jahre nach dem von seinem Vorgänger ausgerufenen Krieg gegen den Terrorismus, von dessen Kriegspolitik Obama sich so vehement distanziert hatte. | 43
| Allerdings reicht das von Westmächten mitverschuldete Erbe der Gewalt des Dschihadismus noch weiter zurück. Während des Afghanistankriegs (1979–1989) unterstützten sie massiv islamistische Mudschaheddin – darunter Osama bin Laden und die dort sich formierende Al Qaida – in ihrem Dschihad gegen die Sowjetunion, die zur Unterstützung der afghanischen Regierung einmarschiert war. Die hier sich zeigende Problematik kontraproduktiver Folgen („Blowbacks“)19 von Stellvertreterkriegen war an sich nicht neu. Der kalte Krieg mit seinem Gleichgewicht des Schreckens verhinderte zwar direkte Konfrontationen zwischen den Supermächten, führte aber zu schwer einschätzbaren Stellvertreterkriegen. So hatten die Vereinigten Staaten den Iran unter dem zunächst westlich orientierten Schah Reza Pahlavi zu einer militärischen Supermacht aufgerüstet, die dann von dem antiwestlichen Ayatollah Khomeini übernommen wurde. Als Gegengewicht unterstützten westliche Staaten massiv den Irak mit Saddam Hussein im Ersten Golfkrieg (1980–1988) gegen den Iran. Als Hussein dann 1990 im Zweiten Golfkrieg Kuwait angriff, wurde der zuvor militärisch aufgebaute Diktator zum Erzfeind des Westens. Die wechselnde Aufrüstung von Irak und Irak vor allem durch die USA ermöglichte – zumal im Ersten Golfkrieg – einen Krieg mit enorm zerstörerischen und zerrüttenden Wirkungen. Dass die Unterstützung durch den Westen vor allem der kriegerischen Zerstörung und kaum dem Aufbau diente, bewirkte nicht nur Destabilisierung, sondern förderte auch antiwestliche Ressentiments, im Irak und Iran ebenso wie etwa in Afghanistan. | 44
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| Die andere große Erschütterung unseres gewaltreichen Gedenkjahres ist die Ukraine-Krise. Genau ein Vierteljahrhundert nach dem gefeierten Ende des Kalten Krieges scheint dessen Neuauflage aufgrund eines imperialistischen Verhaltens des russischen Präsidenten bedrohlich nahe gerückt. Nachdem in einem Gleichgewicht des Schreckens expansive Grenzveränderungen zwischen den Atom-Supermächten ängstlich vermieden wurden, kommen solche in den letzten Jahren häufiger vor. Erschreckend für Europäer ist es, dass dies mit der russischen Einverleibung der Krim nun auch in Europa geschehen konnte. Auch hier wirkt sich ein Erbe der Gewalt aus: Nach dem Mauerfall gab es offenbar mündliche Zusagen westlicher Politiker an die Sowjetunion, dass sich die NATO keinesfalls weiter nach Osten ausdehnen werde, wenn die Sowjetunion einer NATO-Mitgliedschaft des geeinten Deutschlands zustimmen würde. Dennoch kam es in den Jahrzehnten nach der Auflösung des Warschauer Paktes und der UdSSR (1991) zu umfangreichen Osterweiterungen der NATO, die von Russland durchwegs als Vertragsbruch des Westens wahrgenommen werden.20 Auch die EU wird in Russland als expandierende westliche Macht eingeschätzt, die nun offenbar im Begriff wäre, sich auch die Ukraine einzuverleiben. Dementsprechend sieht Putin sein Agieren in der Ukraine nicht als imperialistisch, sondern als gebotene Selbstverteidigung gegen eine fortschreitende westliche Expansionspolitik. | 46
| Manche meinten, in der aktuellen Ukraine-Krise Analogien zum Balkankonflikt zu erkennen, der vor hundert Jahren zum Pulverfass für den Ersten Weltkrieg wurde.21 Doch die Analogien zeigen auch die Unterschiede. Im Gegensatz zu damals läuft trotz aller Provokationen die diplomatische Maschinerie zwischen den involvierten Mächten ungebrochen, und letztlich ist doch jede Seite – auch Russland – bemüht, eine Eskalation bis zum Äußersten zu verhindern. Offene militärische Einsätze gegeneinander werden von den Großmächten durchwegs vermieden. Dafür werden stellvertretende Akteure unterstützt und militärisch ausgerüstet. Die oben bereits im Blick auf den Westen angesprochene Problematik von Stellvertreterkriegen – zumal durch verdeckte Unterstützung nichtstaatlicher Kräfte in Bürgerkriegen – wiederholt sich nun in der russischen Unterstützung von prorussischen Separatisten. Diese, von denen es ja verschiedene rivalisierende Gruppen gibt, sind von Russland nur schwer einzuschätzen und zu steuern. Die Anführer von nichtstaatlichen Milizen lassen sich weniger unter Druck setzen und zur Verantwortung ziehen als staatliche Politiker und Militärs. Völkerrechtsbrüche wie die Gefangensetzung von OECD-Beobachtern oder der Abschuss eines Zivilflugzeugs können kaum mehr verhindert oder geahnt werden. Die gegenwärtige Tendenz zu undurchsichtigen Stellvertreterkriegen droht so, Kriegskonventionen noch weit mehr außer Kraft zu setzen, als es bei zwischenstaatlichen Konflikten ohnehin geschieht. | 47
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| Diese Phänomene hängen mit einer grundsätzlichen Veränderung von Kriegen und kriegführenden Gesellschaften im 21. Jahrhundert zusammen, und zwar hin zu asymmetrischen Kriegen in postheroischen Gesellschaften.22 Charakteristisch für Supermächte ist der Einsatz teurer, hochtechnisierter Waffensysteme, die eine extrem unverhältnismäßige Überlegenheit über ihre militärischen Gegner bewirken.23 Dem entspricht die „postheroische“ Ausrichtung moderner Industriestaaten, für die hohe Militärausgaben tolerierbar, aber der Verlust von Menschenleben völlig untolerierbar ist. Da industrialisierte, mit Atombomben bewaffnete Industriestaaten Kriege gegeneinander definitiv vermeiden, sind deren einzige Kriegsgegner wirtschaftlich unterentwickelte Staaten, die militärisch vollständig unterlegen sind. Ein echtes Bedrohungspotential stellen allerdings technisch minderwertig ausgerüstete Kämpfer aus heroischen Gesellschaften dar, für die der Einsatz von Menschenleben – bis hin zu Selbstmordattentaten – tolerierbar ist oder sogar honoriert wird. Damit können sie ihre technische Benachteiligung selbst gegenüber Supermächten zu einem gewissen Grad wettmachen24 und den hoch verletzlichen technisierten Gesellschaften, für die jedes Attentatsopfer eine Katastrophe darstellt, massiven Schaden zufügen, wie die Attentate vom 11. September gezeigt haben. | 49
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| Welche Möglichkeiten bestehen für Christen angesichts dieser neuen Gewaltszenarien? Im Blick auf die unabsehbaren Konsequenzen eines Atomkriegs wurde die Lehre von einem gerechten Krieg bzw. zumindest die Anwendbarkeit dieser Doktrin zunehmend fragwürdig. Zugleich gewannen christliche Formen eines aktiven gewaltlosen Widerstandes an Bedeutung. Exemplarisch seien Jean Goss und Hildegard Goss-Mayr genannt, die im Rahmen des – 1914 von Christen gegründeten – Internationalen Versöhnungsbundes zahllose Menschen weltweit in die Praxis eines gewaltlosen Widerstandes gegen Gewaltregimes eingeübt hatten. Ein Beispiel ist die sogenannte Rosenkranzrevolution auf den Philippinen, mit der das Regime von Marcos gestürzt wurde.25 Studien stellen fest, dass gewaltloser Widerstand zwar auch nicht überall erfolgreich ist, aber insgesamt eine höhere Erfolgsquote aufweist als gewalttätige Formen, und zwar bemerkenswerterweise selbst in totalitären Regimen.26 | 51
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| Diese bewährten Formen eines gewaltlosen Widerstands scheinen nun angesichts der genannten neuen Formen der Gewalt, wie sie von den dschihadistischen Terrormilizen wie „Islamischer Staat“ praktiziert wird, unanwendbar zu sein. Während staatliche Regime die Spuren von Gewalt und Folter möglichst verdecken, weil sie ihnen internationale Ächtung bringen könnten, sind Terrormilizen wie IS oder Boko Haram gerade an der medialen Inszenierung ihrer Gewalttaten interessiert, um damit den Mythos ihrer Schrecklichkeit zu steigern. Siege werden so leichter errungen, und die Attraktivität für frustrierte Modernisierungsverlierer aus dem Westen, sich der Bewegung anzuschließen, nimmt zu. | 53
| Aus diesen Gründen wurde ein Gewalteinsatz mit Bombenangriffen auch durch kirchliche Vertreter weithin gebilligt und sogar als wünschenswert erachtet.27 Sehr differenziert war hier die Stellungnahme von Papst Franziskus: „Wo es einen unrechtmäßigen Aggressor gibt, ist es berechtigt, ihn zu stoppen. Ich unterstreiche das Verb stoppen, nicht bombardieren oder Krieg führen“.28 Der Papst sagt „stoppen“, was einen aktiven und zugleich effektiven Widerstand bedeutet. Aber er betont ausdrücklich, dass er damit nicht zu einem gewaltsamen Widerstand („bombardieren oder Krieg führen“) aufruft. Die Unterscheidung setzt die zumindest prinzipielle Möglichkeit einer dritten Alternative voraus. Seine Aussage „Ich unterstreiche das Verb stoppen, nicht bombardieren oder Krieg führen“ bedeutet sprachlogisch: „Ich sage nicht: bombardieren“, – im Gegensatz zur Aussage „Ich sage: nicht bombardieren“. Damit schließt der Papst die Möglichkeit nicht aus, dass in bestimmten Situationen die effektiven Chancen für einen gewaltlosen Widerstand erschöpft sind. Für diesen Grenzfall würde „Stoppen“ dann den Einsatz von Gewalt beinhalten.29 | 54
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| Diese differenzierte Sichtweise entspricht der in den Evangelien bezeugten Gewaltlosigkeit Jesu. In der Bergpredigt und den Aussendungsreden an die Jünger setzt Jesus einen radikalen Verzicht auf den Einsatz von Gewalt – ja sogar eines Besitzes von Mitteln für Gewalt und Verteidigung – voraus. Nun gibt es aber einen Text, der diese Gewaltlosigkeit zurückzunehmen scheint. Nach dem Lukasevangelium sagt Jesus unmittelbar vor seiner Verhaftung am Ölberg zu seinen Jüngern: | 56
| „Als ich euch ohne Geldbeutel aussandte, ohne Vorratstasche und ohne Schuhe, habt ihr da etwa Not gelitten? Sie antworteten: Nein. Da sagte er: Jetzt aber soll der, der einen Geldbeutel hat, ihn mitnehmen, und ebenso die Tasche. Wer aber kein Geld hat, soll seinen Mantel verkaufen und sich dafür ein Schwert kaufen. Ich sage euch: An mir muss sich das Schriftwort erfüllen: Er wurde zu den Verbrechern gerechnet. Denn alles, was über mich gesagt ist, geht in Erfüllung. Da sagten sie: Herr, hier sind zwei Schwerter. Er erwiderte: Genug davon!“ (Lk 22,35–38)] | 57
| Dieser Text darf nicht so verstanden werden, als ob Jesus sein Gebot der Gewaltlosigkeit für die Jünger – und künftig für die Kirche – von dieser Krise seiner bevorstehenden Verhaftung an nun dauerhaft aufheben wollte. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Bergpredigt sowie die Aussendungsreden – und damit die dort von Jesus erhobenen Gewaltlosigkeitsforderungen – unter dem Gnaden-Kairos des mit Jesus anbrechenden Gottesreichs stehen. Nicht nur für die nachösterlichen Jünger, sondern auch für die Kirche sollte dieser Kairos durch die sakramentale Christusgegenwart und durch das Wirken des Heiligen Geistes zu einer Wirklichkeit werden, die zwar nicht selbstverständlich verfügbar ist, mit der sie aber doch vertrauend rechnen dürfen, ja die sie mit Zuversicht jederzeit dringlich erbitten sollen. Für begrenzte Zeiten – hier für die Zeit seiner Verhaftung und Kreuzigung – sagt Jesus nun seinen Jüngern eine Sondersituation an, in der „ihnen der Bräutigam genommen sein“ (Lk 5,35) wird.30 Wenige Verse vor dem zitierten Text über die beiden Schwerter heißt es: | 58
| „Simon, Simon, der Satan hat verlangt, dass er euch wie Weizen sieben darf“ (Lk 22,31).] | 59
| In solchen Situationen sind die Jünger nun auf die natürlichen Mittel der Selbstverteidigung zurückgeworfen. Allerdings: Wie schon öfters, so missverstehen sie ihren Meister auch jetzt im entscheidenden Punkt, als sie ihm sofort zwei Schwerter hinhalten. Gewaltsame Selbstverteidigung ist für Menschen in der Nachfolge Christi eben nicht der vertraute Normalfall, mit dem man sich zuversichtlich abfinden kann. Vielmehr ist sie unter den Bedingungen des anbrechenden Gottesreichs – und das heißt auch: in der Zeit der Kirche – ein Sonderfall von Gnadenverlust, den man zwar für beschränkte Zeit in Kauf nehmen muss, für dessen Überwindung man sich aber auf das Äußerste bemühen muss, – vor allem, indem man Gott in Fasten und Beten dringlich bittet: „Es werden aber Tage kommen, da wird ihnen der Bräutigam genommen sein; in jenen Tagen werden sie fasten.“ (Lk 5,35) | 60
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| Wendet man diese „kairologische“ Interpretation von Bergpredigt, Aussendungsreden und Schwertrede auf gegenwärtige Situationen eskalierender Gewalt an, so ist christlich der Einsatz von Gewalt als äußerste Möglichkeit zu tolerieren, wenn keine andere Weg offensteht, mordende Angreifer zu stoppen. Dies ist allerdings als untypische Ausnahmesituation anzusehen, deren Überwindung mit allen Kräften anzustreben ist. | 62
| Dem entspricht die Haltung von Papst Franziskus zu IS, wenn er trotz massiver Verurteilung ihrer Gewalttätigkeit und trotz der Aufforderung, sie – zur Not auch mit militärischen Mitteln – zu stoppen, den Dialog nicht abbrechen will: | 63
| „Ich gebe niemals eine Sache – verloren. Nie! Vielleicht kann man keinen Dialog führen, aber man sollte nie eine Tür schließen. Es ist sicher schwierig, vielleicht fast unmöglich, aber die Tür ist immer offen, nicht wahr?“31] | 64
| In diesem Zusammenhang ist die wiederholte Aufforderung des Papstes zum Gebet für die verfolgten Christen – und auch für die Verfolger – mehr als ein Ausdruck hilfloser Frömmigkeit. Der Blick auf Christus befreit von den Verblendungen, die mit jeder Einstimmung in Gewalt zwangsläufig einhergehen und klärt den Blick für Auswege in Richtung auf Versöhnung und gewaltlose Formen von gebotenem Widerstand. | 65
| Selbst dort, wo Menschen – wie in unseren Ländern – nicht direkt in überbordende Gewalt verstrickt sind, aber über Medienberichte täglich damit konfrontiert werden, sind sie einem Sog der Gewalt ausgeliefert, der sie in eine Grundhaltung ängstlicher Resignation und/oder eines leidenschaftlichen Wunsches nach schlagkräftiger Vergeltung hineinreißt. Dadurch wird die Fähigkeit zu einem gewaltlosen Widerstand, die im Ernstfall dringend benötigt wird, im Ansatz zerstört. Gewaltlosigkeit beginnt mit einer Geisteshaltung, die in einem geistlichen Kampf täglich neu errungen werden muss. Auch dazu dient das tägliche Gebet für die Opfer und auch für die Täter aus den „heißen“ Konfliktzonen, von denen die Medien täglich berichten. Wer unvorbereitet, ohne Stärkung durch Gebet, die täglichen Gewaltnachrichten über sich ergehen lässt, wird von ihnen in die Straßengräben von Aggression und Resignation getrieben. | 66
| Das Bild von den Straßengräben legt die Frage nach dem rechten Mittelweg zwischen den Abwegen von Aggression und Resignation nahe. Es ist die Frage nach der Haltung, die Christen im vertrauenden Blick auf Jesus Christus gewinnen. Biblisch ist sie beschrieben als eine Haltung unerschütterlichen Vertrauens auf Gott, die sich in eine bedingungslose Nächstenliebe auswirkt, die im Ernstfall bis zur Feindesliebe gehen kann. Es ist die Aufgabe einer christlichen Theologie, diese starke Mitte so zu entfalten, dass ihre Implikationen auch für die konkreten Bedrohungsszenarien unserer Gegenwart ersichtlich sind. Im Folgenden werde ich einige Grundlinien für eine solche Theologie skizzieren. | 67
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| Der christliche Glaube eröffnet eine umfassende Perspektive auf Gott, Welt und Mensch durch eine „große Erzählung“, eine „heilsgeschichtliche Trilogie“ mit den ineinander verwobenen Teilen Schöpfung, Sünde und Erlösung.32 Gemäß dem biblisch-christlichen Schöpfungsglauben ist alles, was ist, von einem guten Gott gut geschaffen.33 Entsprechend der Lehre von Sünde und Sündenfall wurde die ursprunghafte Gutheit der irdischen Schöpfung durch einen missbräuchlichen Einsatz von geschöpflicher Freiheit pervertiert, ohne doch restlos und damit unrettbar zerstört zu sein. Das bedeutet, dass die irdische Welt und insbesondere alle Menschen zugleich erlösbar und erlösungsbedürftig sind. Dabei ist Erlösung als ein göttliches Handeln zu verstehen, welches die schöpfungsmäßig in den Geschöpfen grundgelegte und durch die Sünde pervertierte Gutheit freisetzt, und zwar über dramatische Prozesse der Konfrontation, in denen die geschöpfliche Freiheit von Gott nicht außer Kraft gesetzt, sondern zum Guten freigesetzt wird. | 70
| Diese umfassende Perspektive auf Gott, Welt und Mensch eröffnet für Christen ein maximales Potential zur Transformation von Gewalt. | 71
| (1) Das beginnt mit der Weise, wie Akteure von Gewalt wahrgenommen und beurteilt werden. Gemäß dem christlichen Schöpfungsglauben sind sie als Ebenbilder Gottes mit einer ursprunghaften Gutheit ausgestattet, die sie aufgrund von Sünde zwar radikal pervertieren können, ohne aber die schöpfungsmäßige Gutheit und Schönheit – zumindest vor dem Ende dieses Lebens – restlos zerstören zu können. So kann der gläubige Christ oder die gläubige Christin einem Übeltäter abgrundtiefes Böses zutrauen, ohne die Hoffnung aufzugeben, dass der Täter sich noch zum Guten wandeln kann. Selbst im extremsten Gewalttätigen können Christen noch Anhaltspunkte für Glaube, Hoffnung und Liebe finden. Die Transformationskraft dieser starken Mitte einer zugleich maximal optimistischen und pessimistisch-realistischen Welt- und Menschensicht lässt sich im Vergleich zu ihren einseitigen Extremformen („Straßengräben“) verdeutlichen. Auf der einen Seite steht ein blauäugiger Optimismus eines „Gutmenschentums“, welches die Abgründe des Bösen nicht wahrhaben will, bis es – in voller Härte damit konfrontiert – zwangsläufig zerbricht. Daraus ergibt sich eine Pendelbewegung ins Gegenextrem eines einseitigen Pessimismus, dem angesichts der Faktizität des Bösen in der Welt nur die unglücklichen Alternativen von aggressiver Zerstörungswut oder resignativer Passivität übrig bleiben. Im Blick auf die Möglichkeit von Erlösung – im Sinn einer die Freiheit freisetzenden Transformation zum Guten – scheitert das erste Extrem durch die fehlende Wahrnehmung einer Erlösungsbedürftigkeit und das zweite Extrem durch die Bestreitung der Erlösungsfähigkeit von gewaltverstrickten Akteuren. | 72
| (2) Der zugleich optimistischen und realistischen christlichen Wahrnehmungsfähigkeit entspricht die Möglichkeit eines maximal transformativen Handelns selbst in extremen Gewaltsituationen. Paradigmatisch dafür ist das Verhalten Jesu Christi in einer Grundhaltung kritischer Solidarität, – als Mittelweg zwischen den Straßengräben einer unkritischen Solidarität und einer unsolidarischen Kritik. Das Verhalten einer unkritischen Solidarität entspricht einem naiven Optimismus oder einer ängstlichen Realitätsverweigerung; sie pervertiert die Solidarität mit dem Gewalttäter zur unausdrücklichen Komplizenschaft gegen die von ihm misshandelten Opfer. Das Verhalten einer unsolidarischen Kritik entspricht einem einseitig überzogenen Pessimismus, der bestimmte Akteure als unrettbar böse wahrnimmt; demgemäß können sie nur noch – resignativ – aufgegeben und/oder zum Schutz des Guten in der Welt bis zur Vernichtung bekämpft werden. | 73
| Bemerkenswerterweise ist der starke Mittelweg einer kritischen Solidarität zugleich der Weg der maximalen Konfrontation. Die Solidarität bewirkt, dass die Kritik tiefer trifft, denn die Kritik von einem Freund kann nicht so leicht abgeblockt werden. Das maximiert die Möglichkeiten zur Wandlung von Übeltätern und zur Transformation von Situationen der Gewalt, aber auch die Gefahr für den solcherart aktiv gewaltlos Agierenden, selber zum Opfer von Gewalt zu werden, ja selber dem Vorwurf der Solidaritätsverweigerung oder einer komplizenhaften Kritiklosigkeit ausgesetzt zu werden. Das Beispiel Jesu zeigt, wie angesichts der fortgesetzten Verweigerung von Jesu Kontrahenten der Mittelweg zwischen Aggression und Resignation immer enger und schließlich zum Kreuzweg wird. Dass der starke, maximal Transformation ermöglichende Mittelweg in eskalierenden Konfliktsituationen immer enger wird, heißt, dass er mit bloß menschlichen Kräften kaum mehr gefunden und begangen werden kann. Das Beispiel Jesu Christi zeigt, dass ein radikales Hören auf die Führung Gottes (vermittels des Heiligen Geistes) die Einsicht und die Kraft eröffnet, den aktiv-gewaltlosen starken Mittelweg zu finden und zu gehen, ganz im Sinne des Jesajawortes über den Gottesknecht: | 74
| „Jeden Morgen weckt er mein Ohr, damit ich auf ihn höre wie ein Jünger. Gott, der Herr, hat mir das Ohr geöffnet. Ich aber wehrte mich nicht und wich nicht zurück“ (Jes 50,4f).] | 75
| Der maximal gewaltüberwindende Mittelweg einer kritischen Solidarität gründet in der Doppelgestalt der von Gott ausgehenden Sendung, von der Jesus sich restlos bestimmen lässt: Sie ist Sendung von Gott her und zu den Menschen hin. Einerseits verpflichtet sie zu einer kompromisslosen Treue zu Gott, die in einer unkritischen „Solidarität“ verraten würde. Andererseits sendet sie gemäß Gottes Heilswillen zu den Menschen, sodass eine unsolidarische Kritik diesen Sendungsruf zu einer „Proexistenz“ für die Menschen verraten würde. | 76
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| In dieser zweigestaltigen Sendung, die den Christen und der Kirche in der Nachfolge Christi aufgetragen ist, stehen eine Zuwendung zu Gott und zu den Menschen nicht in Widerspruch zueinander, sondern stärken sich gegenseitig, allerdings – gemäß dem enger werdenden Kreuzweg kritischer Solidarität – unter Umständen in einer Ausgespanntheit bis zum Zerreißen. In diese Spannung ist die Kirche gestellt: Einerseits ist sie in einer Weise Gott verbunden, die sie der „Welt“ – im johanneischen Sinn einer Schöpfung, die durch gottfeindliche Eigendynamiken pervertiert ist – entfremdet ist: Christen als „resident aliens“,34 deren Heimat im Himmel ist (Phil 3,20). Andererseits ist die Kirche – in der Nachfolge des inkarnierten Christus – gerufen, sich in äußerster Solidarität auf die Menschen einzulassen, mit dem Risiko, sich die Hände schmutzig zu machen, zur „verbeulten Kirche“ zu werden (Papst Franziskus), indem sie in Verruf gerät, Fehler macht, – oder gerade weil sie keine Fehler macht: indem sie mitten im solidarischen Mitwirken an den Projekten zur Verbesserung und Rettung der Welt durch eine gelebte Theozentrik verstört. Theozentrik – Treue zu Gott nicht anstelle von, sondern mitten im Weltengagement – besagt die Verweigerung, wenn noch so gut erscheinende Ziele um jeden Preis errungen werden sollen, auch um den Preis von Lüge und Gewalt; Verweigerung, wenn jener heilige Wurzelgrund von Menschen und Wirklichkeiten angetastet wird, in dem sie in Gott gründen und der für Gott offenzuhalten ist, – gegen Okkupationsversuche durch Gewalt (entgegen dem Tötungsverbot) oder durch Manipulation (in der Vergötzung innerweltlicher Wirklichkeiten).35In der Welt, aber nicht von der Welt, – das ist der ausgespannte Ort von Kirche, von Gemeinde und von Christen, wo sie gerufen sind, an der erlösenden Transformation der Welt „in Christus“ mitzuwirken. Die Zuweisung dieses Ortes kann auch von Theologien in zwei Richtungen verfehlt werden: | 78
| einerseits in eine Anschlusstheologie, die sich den kulturellen und wissenschaftlichen Weltprojekten verschreibt und dabei die kritischen, prophetischen Vorbehalte vernachlässigt, die sich aus einem Hochhalten Gottes mitten in der Welt ergeben: unkritische Solidarität; | 79
| andererseits in eine eskapistische, sektiererische Theologie, die ein Heil jenseits der Welt für die „kleine Herde“ propagiert und meint, die Schöpfung oder Teile davon zugunsten Gottes preisgeben zu dürfen: eine unsolidarische Kritik, welche die vermeintlich favorisierte Treue zu Gott gerade dadurch verrät, dass sie sich dem Ziel von Gottes Sendung verweigert. | 80
| Beide theologischen Gegenextreme verfehlen gleichermaßen das zentrale heilsgeschichtliche „Projekt“ des Gottes Jesu Christi: eine erlösende Transformation von Welt.36 Beide scheitern gleichermaßen daran, Christen die Einsicht und die Widerstandskraft in Bezug auf ein Böses – verfestigt in Dynamiken der Täuschung und Gewalt – zu vermitteln, das in extremen geschichtlichen Konstellationen, wie es die beiden Weltkriege waren, einen ungeheuren Sog entwickeln kann. Solche Situationen werden für beide theologische Straßengräben unvermeidlich zum Scheitern und damit zum Selbstgericht werden. In dieser Hinsicht wäre die Wirkungsgeschichte einerseits der liberalen, andererseits der dialektischen Theologie im Kontext der Weltkriege zu untersuchen.37 | 81
| Analog zum zugewiesenen Ort für Christen und Kirche ist eine adäquate christliche Theologie „in, aber nicht von der Welt“ und so bis zum Zerreißen ausgespannt. „Nicht von der Welt“ besagt, dass sie – theozentrisch und christozentrisch – einer Mitte verpflichtet ist, die ihr nicht verfügbar oder durchschaubar ist. Als negative Theologie hat sie diese Mitte offenzuhalten im Widerstand gegen die vereinnahmenden Tendenzen weltlicher Systeme (z.B. in einer Identifizierung von Gottesreich und Staat während der Weltkriege) und muss sich zugleich davor hüten, diese Mitte selber zu belegen, sei es fundamentalistisch oder in der Weise einer geschlossenen Systembildung.38 „Offenhalten der Mitte“ besagt auch den beständigen Verweis auf das, was unsagbar ist, und das geschieht durch das Aufrechterhalten von Spannungen, die sich von diesem Unsagbaren her als starke Mitten erweisen, bei denen die Betonung des einen das jeweilige andere nicht schwächt, sondern sogar stärkt. Wie das aussehen kann, habe ich oben an der Spannung im christlichen Schöpfungsverständnis zwischen Optimismus und realistischer Wahrnehmung des faktischen Bösen, sowie an der soteriologischen Spannung einer kritischen Solidarität skizziert. | 82
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| Eine Theologie, die zugleich Gott und der Erde treu ist, und die sich so für eine erlösende Transformation der Schöpfung einsetzt, ist wie Jesu Wirken den Frustrationen aus einer gewalttätigen Verstockung ausgesetzt. Weil Jesus den Widerstand von uneinsichtigen Menschen nicht gewaltsam brach, war sein Verkündigungswirken von Anfang zum Scheitern verurteilt, – zumindest nach dem Urteil aus einer rein innerweltlichen Perspektive. Erst über Kreuz und Auferstehung wird Erlösung möglich als Transformation innerweltlicher Wirklichkeiten in eine neue Schöpfung, die diese Welt transzendiert und doch eng mit ihr verbunden ist.39 Als leibhaft Auferstandener ist Jesus Christus der Erstgeborene dieser neuen Schöpfung (Kol 1,16–18). Dass sein Leib die Kirche ist (Kol 1,18), ist weit mehr als eine kraftlose Allegorie. Es besagt, dass die Wirklichkeit der neuen Schöpfung, die eschatologisch in einem neuen Himmel und einer neuen Erde (Offb 21,1) vollendet sein wird, in den an Christus Glaubenden bereits mitten in diesem alten Äon angefangen hat (2 Kor 5,17), wenn auch in einer anfanghaften, noch verborgenen Weise. Entscheidend für das christliche Verständnis von erlösender Transformation ist diese Ungetrenntheit von dieser Welt und Neuschöpfung. Sie bedeutet, dass der Blick in den Himmel nicht vom Engagement in dieser Welt ablenkt, sondern im Gegenteil: alles Gute, das in dieser Welt verwirklicht wird, baut bereits jetzt an der Neuschöpfung mit, sodass die Verausgabungen und das Scheitern, die erlittene Gewalt und Zerstörung das christliche Engagement in dieser Welt nicht mehr frustrieren können. | 84
| „Darum werden wir nicht müde; wenn auch unser äußerer Mensch aufgerieben wird, der innere wird Tag für Tag erneuert. Denn die kleine Last unserer gegenwärtigen Not schafft uns in maßlosem Übermaß ein ewiges Gewicht an Herrlichkeit, uns, die wir nicht auf das Sichtbare starren, sondern nach dem Unsichtbaren ausblicken; denn das Sichtbare ist vergänglich, das Unsichtbare ist ewig.“ (2 Kor 4,16–18)] | 85
| Was Paulus hier als inneren Menschen bezeichnet, ist – fern von einer vergeistigten Innerlichkeit – der Anfang der neuen Schöpfung, die in diesem alten Äon um die Mitte des auferstandenen Christus im Verborgenen heranwächst. Der Aufbau an seinem Leib ist nicht anders möglich als durch ein glaubend-liebend-hoffendes Engagement in dieser Welt, und weil dieses Weltengagement zugleich an der unzerstörbaren neuen Schöpfung arbeitet, kann es durch eine drohende innerweltliche Wirkungslosigkeit – etwa in einem aktiv gewaltlosen Widerstand gegenüber Terrorbewegungen – nicht frustriert werden. | 86
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1 Dieser Rechtsbruch führte zum Kriegseintritt Großbritanniens – mit seinen Kolonien – und provozierte eine internationale Greuelpropaganda gegen die „barbarischen Deutschen“. Innerhalb kürzester Zeit eskalierte so ein Lokalkrieg in einen Kontinentalkrieg und dann in einen Weltkrieg, – mit maßloser Gewalt gegen dämonisierte Feinde.
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2 Völlig unterschätzt wurden dabei von Militärstrategen die neuen automatischen Waffen, die in kurzer Zeit in einen Stellungskrieg mit ungeheuren Materialschlachten zwangen. Und dies, obwohl diese Fakten vom russisch-japanischen Krieg (1904-1905), in dem Maschinengewehre zum Einsatz kamen, eigentlich bekannt gewesen wären.
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3 Stephan Zweig hat diesen verführerischen Sog eindrucksvoll beschrieben: „Aufzüge formten sich in den Straßen, plötzlich loderten überall Fahnen, Bänder und Musik, die jungen Rekruten marschierten im Triumph dahin, und ihre Gesichter waren hell, weil man ihnen zujubelte, ihnen, den kleinen Menschen des Alltags, die sonst niemand beachtet und gefeiert. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich bekennen, daß in diesem ersten Aufbruch der Massen etwas Großartiges, Hinreißendes und sogar Verführerisches lag, dem man sich schwer entziehen konnte. Und trotz allem Haß und Abscheu gegen den Krieg möchte ich die Erinnerung an diese ersten Tage in meinem Leben nicht missen: Wie nie fühlten die Tausende und Hunderttausende Menschen, was sie besser im Frieden hätten fühlen sollen: daß sie zusammengehörten. (...) Alle Unterschiede der Stände, der Sprachen, der Klassen, der Religionen waren überflutet für diesen einen Augenblick von dem strömenden Gefühl der Brüderlichkeit. (…) Jeder einzelne erlebte eine Steigerung seines Ichs, er war nicht mehr der isolierte Mensch von früher, er war eingetan in eine Masse, er war Volk, und seine Person, seine sonst unbeachtete Person hatte einen Sinn bekommen. Der kleine Postbeamte, der sonst von früh bis nachts Briefe sortierte, immer wieder sortierte, von Montag bis Samstag ununterbrochen sortierte, der Schreiber, der Schuster hatte plötzlich eine andere, eine romantische Möglichkeit in seinem Leben: er konnte Held werden, und jeden, der eine Uniform trug, feierten schon die Frauen, grüßten ehrfürchtig die Zurückbleibenden im voraus mit diesem romantischen Namen“ (Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 1993, S. 258f.).
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5 Erst in der fünften Auflage von „Hurra und Halleluja“ wurde dieses Gebet entfernt.
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6 Zum Gericht wurde der Weltkrieg für dominierende Formen der Verkündigung: Anfänglich begrüßten viele kirchliche Vertreter den Krieg als Chance für einen neuen christlichen Aufbruch. Die Menschen stellten ihre egoistischen ökonomischen Interessen zurück, um sich – für Gott, Kaiser und Vaterland – einer großen, selbstlosen Sache zu verschreiben. Und ohne die Natur dieser Sache zu unterscheiden, stellten sich religiöse Repräsentanten legitimierend an deren Spitze und erreichten so eine ganz neue Popularität für sich und ihre Konfession. Als der Krieg dann vorbei war, musste eine Schwächung des christlichen und kirchlichen Glaubens eingestanden werden. Viele fühlten sich getäuscht und verraten durch falsche Versprechungen im Namen Gottes.
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7 Allerdings erlangte eine entsprechende Kritik erst nach dem Zweiten Weltkrieg, im Blick auf die Zerstörungskraft von Atomwaffen, eine größere kirchliche Breitenwirkung.
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8 Vgl. dazu: Chr. Nottmeier, Adolf von Harnack und die deutsche Politik 1890-1930: Eine biographische Studie zum Verhältnis von Protestantismus, Wissenschaft und Politik, Tübingen 2004, 378-385.
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9 Gemeinsam mit dem Historiker Reinhold Koser.
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10 „Alle offenkundige und heimliche Feindschaft von Ost und West, von jenseits der See haben wir bisher ertragen im Bewußtsein unserer Verantwortung und Kraft. Nun aber will man uns demütigen. [...] So muß denn das Schwert entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf! zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande. [...] Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Roß. Und wir werden diesen Kampf bestehen auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“ Aus der Radioansprache von Kaiser Wilhelm II., Berlin am 6. August 1914, zitiert nach: http://www.stahlgewitter.com/14_08_06.htm. Es ist ein Telegramm dokumentiert, in dem Kaiser Wilhelm II. Adolf von Harnack für die Verfassung dieses Aufrufs dankte. Vgl. dazu Stephan Rebenich, Der alte Meergreis, die Rose von Jericho und ein höchst vortrefflicher Schwiegersohn: Mommsen, Harnack und Wilamowitz. In: K. Nowak / O. G. Oexle (Hg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker. Göttingen 2001, 39-69, hier: 63.
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12 13 Jahre zuvor hatte Frankreich durch einen Einmarsch im Rheinland (aufgrund säumiger Reparationszahlungen Deutschlands) schärfer reagiert, als den alliierten Mächten (vor allem Großbritannien) recht war und damit auch den Verdacht einer Destabilisierung Mitteleuropas zugunsten eigener Machtinteressen auf sich gezogen. Dies trug mit dazu bei, dass bei Hitlers Remilitarisierung des Ruhrgebiets 1936 sich Großbritannien zurückhielt und Frankreich es nicht wagte, noch einmal einzumarschieren.
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13 Vgl. dazu: René Girard, Im Angesicht der Apokalypse. Clausewitz zu Ende denken. Berlin 2014, 262-319.
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14 Vgl. dazu und zum ganzen Abschnitt: Girard, René: Clausewitz zu Ende denken. Gespräche mit Benoît Chantre, Berlin (Matthes & Seitz), 2014.
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15 Zur Erstinformation vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Rheinkrise. Für Deutschland aber hatte die Rheinkrise eine wesentliche identitätsstiftende Bedeutung (in einer Identität gegen Frankreich), die von Heinrich Heine so beschrieben wird, dass „damals Thiers [der französische Präsident, W.S.] unser Vaterland in die große Bewegung hineintrommelte, welche das politische Leben in Deutschland weckte; Thiers brachte uns wieder als Volk auf die Beine“ (vgl. ebd.).
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16 Wichtig waren in dieser Geschichte deutsch-französischer Beziehungen verschiedene „Paare" von deutschen und französischen Staats- bzw. Regierungschefs, u.a. Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing, Helmut Kohl und François Mitterand, Jacques Chirac und Gerhard Schröder, Angela Merkel und Nicolas Sarkozy bzw. François Hollande . Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Deutsch-franz%C3%B6sische_Beziehungen .
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17 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München 1996, 21. Zu einer theologischen Typologie von negativ-grenzender und positiv-bezogener Identität, vgl. W. Sandler, Die gesprengten Fesseln des Todes. Wie wir durch das Kreuz erlöst sind. Kevelaer 2011, 40-47.
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22 Vgl. Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Weilerswirt (Velbrück Wissenschaft), 2006.
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23 So waren im Irakkrieg die Verluste bei den irakischen Militärs siebenmal höher als bei den US-Streitkräften ( Irak: 28.800-37.400, USA: 4804. Vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Irakkrieg), während bei ausgedehnten Bombardements etwa von Serbien durch die NATO für dieselbe beinahe keine Verluste zu beklagen sind.
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24 Im Fall einer Flugzeugentführung können Selbstmordattentäter unter Umständen selbst mit Teppichmessern ihr Ziel erreichen. Vgl. dazu Herfried Münkler, Die Kriege des 21. Jahrhunderts; in: Gewerkschaftliche Monatshefte, 4/2003, 54. Jg., S. 193-204, hier: 195.
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25 Vgl. Goss-Mayr, Hildegard: Der Mensch vor dem Unrecht. Spiritualität und Praxis - Gewaltlose Befreiung, Wien (Europaverlag), 1981. Dies.: Jean Goss. Mystiker und Zeuge der Gewaltfreiheit, Ostfildern (Patmos), 2012.
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26 Vgl. Chenoweth, Erika / Stephan, Maria J.: Why Civil Resistance Works. The Strategic Logic of Nonviolent Conflict (Columbia Studies in Terrorism and Irregular Warfare), Columbia (Columbia Univ. Pr.), 2012.
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27 Vgl. Erzbischof Schick, der Anfang September für die deutsche Bischofskonferenz feststellte: „Wir als Kirche sind grundsätzlich gegen Krieg und deshalb sind wir auch grundsätzlich gegen Aufrüstung. Aber wir müssen auch dafür sein, dass Menschen geschützt werden, wenn sie bedroht sind. Das ist im Irak der Fall. Wenn diese Menschen nicht anders geschützt werden können als mit Waffengewalt, dann muss man dazu, auch wenn man es nicht will, leider Gottes Ja sagen.“ ... „Es dürfen nur Waffen sein, die die Waffen des ‚Islamischen Staates‘ zerstören und die die Menschen beschützen. Es darf keine Aufrüstung geben durch die Waffenlieferung, sondern eigentlich muss es dahin gehen, dass Waffen zerstört werden, dass es weniger Waffen im Irak werden, zumindest auf Zukunft hin.“ (http://de.radiovaticana.va/storico/2014/09/03/d_irak_erzbischof_schick,_%E2%80%9Ewaffenlieferungen_ja,_aber__/ted-823148)
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29 Die ausdrückliche Billigung der Bombenangriffe durch die Deutsche Bischofskonferenz setzt die Annahme eines solchen Sonderfalls (dass ein effektives Stoppen nur mit Gewalt möglich ist) voraus. Insofern steht sie nicht im Widerspruch zur allgemeineren Aussage von Papst Franziskus. Dessen Formulierung „ich sage nicht, dass ...“ kann auch so verstanden werden, dass der Papst bzgl. IS und Syrien/Irak über die konkreten Spielräume eines gewaltlosen Stoppens keine Aussage machen wollte.
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30 Damit meine ich nicht, dass Jesu Schwertrede sich ausschließlich auf diese singuläre Zeitspanne beziehen würde und damit ohne Relevanz für spätere Situationen wäre. Vielmehr werde ich im Folgenden verdeutlichen, dass sich diese Schwertrede zugleich auf exemplarische Situationen einer Heillosigkeit bezieht, in der auch Christen auf Mittel gewaltsamer Verteidigung zurückgeworfen sind. Diese Situationen sind für Christen, denen die Gegenwart Jesu Christi im Heiligen Geist zugesagt ist, allerdings Ausnahmesituationen.
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32 Vgl. Willibald Sandler, Die gesprengten Fesseln des Todes. Wie wir durch das Kreuz erlöst sind. Kevelaer 2011, 18-22.
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33 Dass alles was ist, von einem guten Gott gut geschaffen ist, steht nicht ausdrücklich in den beiden Schöpfungserzählungen von Gen 1-2, – ebensowenig, wie die Aussage, dass alles was ist, von Gott geschaffen ist. Hier besteht eine Spannung zwischen Bibelwissenschaften und einer systematischen Theologie, welche die Pluralität und Diversität biblischer Texte immer wieder vorschnell geglättet hat. Trotzdem ist der Anspruch eines guten Gottes auch bibeltheologisch nicht einfach aufzugeben, – auch nicht im Kontext von alttestamentlichen Aussagen über Gott als Schöpfer, die natürlich über Gen 1 und 2 hinausgehen. Vgl. dazu Fischer, Georg: Theologien des Alten Testaments (Neuer Stuttgarter Kommentar - Altes Testament 31), Stuttgart (Katholisches Bibelwerk) 2012, 257-266. Dramatische Theologie arbeitet sich ab an den biblisch eröffneten Spannungen eines guten Gottes, der eine gute Welt geschaffen hat, aber als Schöpfer von allem auch für das Böse in der Welt verantwortlich gemacht wird (vgl. Jes 45,7). Vgl. Sandler, Willibald: Dramatische Theodizee. Wahrnehmung und Überwindung des Bösen aus der Perspektive einer dramatischen Theologie, in: ders., Skizzen zur dramatischen Theologie. Erkundungen und Bewährungsproben, Freiburg i. Br. (Herder) 2012, 293-334. Weiters dazu und zum Folgenden: Sandler, Willibald: Die gesprengten Fesseln des Todes. Wie wir durch das Kreuz erlöst sind, Kevelaer (Topos) 2011.
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34 Vgl. Hauerwas, Stanley /Willimon, William H.: Resident aliens. Life in the Christian colony, Nashville (Abingdon Pr.), 1989.
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35 Vgl. Sandler, Willibald: Die offen zu haltende Mitte. Negative Theologie in dramatischer Polyperspektivität, in: Halbmayr, Alois / Hoff, Gregor Maria (Hgg.), Negative Theologie heute? Zum aktuellen Stellenwert einer umstrittenen Tradition (Quaestiones Disputatae 226). Freiburg / Basel / Wien (Herder), 2008, 152–170.
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36 Dazu und zum folgenden Kapitel vgl.: Wright, Tom: Von Hoffnung überrascht. Was die Bibel zu Auferstehung und ewigem Leben sagt, Neukirchen-Vluyn (Neukirchener Verlag), 2011.
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37 Trotz meiner Kritik an Harnack im ersten Kapitel: Bei genauerer Wahrnehmung wird das Urteil nicht restlos gegen die liberale Theologie und auch nicht restlos für die dialektische Theologie ausfallen, sondern differenzierter sein. Nicht alle Anhänger der dialektischen Theologie gingen in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus; und jene die – wie Karl Barth – es taten, modifizierten eine einseitig an Opposition orientierte dialektische Theologie.
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38 Vgl. Sandler, Die offen zu haltende Mitte.
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39 Beides zeigt sich an den Eigenarten des Auferstehungsleibes Jesu Christi: seine Transzendenz im mühelosen Betreten und Verlassen von geschlossenen Räumen, seine Weltverbundenheit in der Möglichkeit, zu essen und sich berühren zu lassen.
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