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| Entgegen verbreiteten Befürchtungen hat der jüngste EU-Gipfel (28.–29. Juni 2018) doch noch eine Einigung gebracht – mit einer deutlich rigoroseren Flüchtlingspolitik. Die Einrichtung von geschlossenen „Anlandezentren“ oder „Anlandeplattformen“ für Flüchtlinge in und außerhalb der EU wurde beschlossen. Ein Triumph für Sebastian Kurz? Sein Vorschlag, mit dem er – unter dem Titel Australisches Modell – als Außenminister im Jahr 2015 noch weithin allein dastand, scheint sich nun auf EU-Ebene durchgesetzt zu haben. Er selber sieht den Verhandlungserfolg allerdings auch nüchtern: Es gäbe durchaus noch Widerstand gegen eine europäische Einigung. Damit meint er nicht die üblichen Verdächtigen – populistische Hardliner wie Viktor Orban und neuerdings Italien mit Giuseppe Conte und Matteo Salvini – sondern PolitikerInnen wie Angela Merkel, „die ideologisch noch immer für die Aufnahmepolitik in Mitteleuropa stehen“1. |
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| Ein neuer, weißgewaschener Name für die Idee ist zwar gefunden: Anlandezentren. Aber die Veränderung in den Köpfen müsse erst Realität werden2. Dabei steckt der Teufel im Detail. Dieses liegt nicht einmal so sehr darin, dass sich in Frage kommende Länder bislang gesperrt haben, solche Anlandezentren aufzunehmen, sondern in der Frage, wie human oder inhuman diese Zentren gestaltet werden dürfen. |
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| Das Problem dabei ist, dass die Idee hinter dem neuen Namen „Anlandezentren“ keineswegs eindeutig ist. Lautet die leitende Idee „humane Flüchtlingspolitik“ oder „Schließung der Flüchtlingsrouten“? Human wäre es, Flüchtlingen die lebensgefährlichen Fluchtrouten zu ersparen und für sie – nach Bestätigung eines Asylstatus – eine geordnete Umsiedlung (Resettlement) zu organisieren. Mit diesem humanen Gesicht seiner Idee hat Kurz immer wieder geworben. Ebendies steht ist aber unvereinbar mit seiner eigentlich leitenden Idee, die er vehement vertritt: Schließung der Flüchtlingsrouten. Wenn man die Anlandezentren menschenwürdig und fair einrichtet, dann werden sie von wirklich bedrohten Menschen geradezu gestürmt werden. Denn es gibt sehr, sehr viele von ihnen. Europa müsste sie in die Zentren aufnehmen (lassen), ihnen den Asylstatus zuerkennen, sie dann auf eigene Kosten in die eigenen Länder transportieren und sie dort verteilen. Und genau das ist politisch unmöglich und widerspricht auch vollständig der von Sebastian Kurz im Einklang mit der FPÖ vorangetriebenen Flüchtlingspolitik! Das wäre eine neue „Flüchtlingsroute“, viel offener und attraktiver als jene, die die Schlepper ermöglicht haben. |
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| Populistische Logik und Rhetorik könnte einen solchen Vorschlag nur folgendermaßen benennen: Nun würden nicht mehr die NGOs, sondern die EU selber, ganz offiziell, das Geschäft der Schlepper restlos übernehmen. |
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| Das wäre nach der zynischen Logik des Flüchtlingspopulismus aber vor allem deshalb fatal, weil damit genau das wegfallen würde, wofür die Schlepper im Sinne einer „Festung Europa“ wichtig waren. Sie sorgten für jene schrecklichen Bilder von Ertrinkenden, die dazu taugen, Flüchtlinge von ihren Routen abzuhalten. Deshalb mussten die NGOs mit ihren Rettungsschiffen als Schlepper-Helfer kritisiert werden: nicht weil sie den Transportauftrag der Schlepper zu Ende führten, sondern weil sie das so human machten. Der einzige Ausweg – um Flüchtlingsrouten wirklich schließen zu können – kann hier noch darin bestehen, Bilder von umherirrenden Flüchtlingsschiffen zu erzeugen, die nirgendwo in Europa anlegen dürfen. |
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| Bei alldem geht es darum, Mauern für die Festung Europa aufzubauen. Dagegen wurde eingewandt, dass das Unternehmen „Festung Europa“ nicht durchführbar sei. Der Migrationsdruck sei so groß, dass Mauern die andrängenden Menschen nicht aufhalten können, – in Europa ebensowenig wie an der Grenze zwischen USA und Mexiko. Mauern zu bauen sei also naiv. Leider entbehrt auch dieses Urteil nicht einer gewissen Naivität. Gewiss: Mauern aus Beton und Stahl können verzweifelte Flüchtlinge nicht aufhalten. Wohl aber Mauern, die mit Blut getränkt sind. Deshalb brauchte Trump die erschütternden Bilder von den zerrissenen Familien. Gemäß einer geheimen Logik, von der der Populismus sich treiben lässt, waren die Bilder von den verzweifelten Kindern nur deshalb falsch, weil sie zu früh kamen – ein wenig zu früh. Die Bevölkerung ist noch nicht so weit. Sie hat noch zu wenig gelernt, dass sie ihre Interessen nur effektiv schützen kann, wenn sie diese Ereignisse zulässt, ja sogar begrüßt. Deshalb muss das Werk der Verrohung von Sprache und Bildern erst noch ein Stück vorangetrieben werden. Dann können die skandalisierten Bilder wieder eingesetzt werden und ihren Beitrag leisten: nicht nur zur effektiven Abschreckung von Flüchtlingen und Migranten, sondern auch zur dafür nötigen Verrohung der Gewissen. |
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| Genau hier steckt bei der neuen Verständigung der EU zur Flüchtlingskrise der Teufel im Detail: Die Anlandezentren dürfen keinen Pull-Faktor bilden, wie es in technizistisch verharmlosender Sprache heißt. Gemeint ist damit: die Anlandezentren sind so einzurichten, dass sie auf Flüchtlinge und Migranten nicht anziehend wirken. Angesichts von zahllosen existenziell bedrohten Flüchtlingen kann das im Endeffekt nur heißen, dass sie extrem abstoßend sein müssen. Deshalb ist es nicht überraschend sondern nur konsequent, wenn bereits zwei Tage nach dem EU-Gipfel verlautet, dass Österreich die Passage mit dem Pull-Faktor maximal und restriktiv auslegen will.3 Konkret: Im Widerspruch zur Genfer Flüchtlingskonvention sollen dort keine Asylanträge gestellt werden dürfen. |
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| Weiters wird auch verständlich, warum Sebastian Kurz die von ihm geforderten Aufnahmezentren nur außerhalb der EU haben will. Denn nur dort können sie so eingerichtet werden, dass sie effektiv keinen Pull-Faktor bilden. Dazu braucht man nämlich die Grausamkeiten, die man den libyschen und australischen Lagern nachgewiesen hat. Solche Zustände wären innerhalb der EU nicht haltbar. |
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| All das klingt unerträglich zynisch. Aber es ist zwingend logisch, wenn die leitende Idee in der Flüchtlingspolitik die Schließung von Außengrenzen und die Aufrichtung einer Festung Europa ist. Natürlich kann man Anlandezentren in und außerhalb Europas auch nach strengen humanitären Maßstäben aufbauen. Aber jedes Bemühen in diese Richtung wird auf den äußersten Widerstand der so einflussreichen populistischen Kräfte in Europa stoßen. |
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| „Soll Euer Deich sich halten, so muß was Lebiges hinein! … Ein Kind ist besser noch; wenn das nicht da ist, thut´s auch wohl ein Hund!“4 |
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| Bauopfer und Menschenopfer – wie eben zitiert aus Theodor Storms Novelle Der Schimmelreiter – scheinen einer längst vergangenen, irrationalen Zeit zu entstammen. Aber haben wir den teuflischen Aberglauben wirklich hinter uns gelassen – wenn´s doch zu funktionieren scheint? Die Mauern einer Festung Europa oder einer Festung USA „funktionieren“ nur, wenn man sie mit Blut tränkt. Und ein Hund tut´s dabei wohl nicht. |
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| Der Weg, den man dabei einschlägt, ist eine stetig sich steigernde, unaufhaltsame Verrohung. „Wer A sagt, muss auch B sagen“, heißt es im Märchen von Hänsel und Gretel. Denn wer „B“ nicht sagen will, riskiert den Zusammenbruch aller bisherigen Bemühungen. Wem die Kosten dafür zu hoch sind, der geht den Weg der Inhumanität wider besseres Wissen und Gewissen weiter, wobei man die schmutzigen Spuren bestmöglich verwischt. So werden Opfer zu Tätern, Getriebene zu Treibenden. Die „Allianzen der Willigen“ weiten sich aus. |
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| Vor achtzig Jahren träumte Franz Jägerstätter von einem schönen, attraktiven Eisenbahnzug, mit dem zahllose Menschen unbedingt mitfahren wollten. Dann hörte er die Stimme: „Dieser Zug fährt in die Hölle“.5 |
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| Man sollte sich mehr als zweimal überlegen, einen solchen Vergleich aus Zeiten der aufdämmernden Shoah auf gegenwärtige Entwicklungen anzuwenden. Aber es geht nicht darum, historische Unsäglichkeiten aufzurechnen, sondern – sozusagen in einer Differentialrechnung – das Gefälle der Strecken auszumessen, auf denen wir uns bewegen. |
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| Sebastian Kurz hat einen ausgeprägten Sinn dafür, welche Züge „mehrheitsfähig“ sind und bietet sich so als hochattraktiver Zugführer an – vor allem in der Flüchtlingsfrage. Die mittlerweile internationale Anerkennung, die ihm dafür zukommt, hält seine Akzeptanz auch in Österreich weiter hoch. Aber achtet er auch auf das Gefälle – und von daher darauf, wo der Zug hinfährt? |
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| Mit zunehmendem Unbehagen habe ich die Flüchtlingspolitik von Sebastian Kurz in den vergangenen Jahren verfolgt, immer auch mit Sinn für berechtigte Anliegen, Sachzwänge und einem instinktiven Widerstand gegen moralistisch alternativlose Empörung. Nach dem jüngsten Einschwenken eines politisch liberalen Autors in eine verrohte Sprache pro „Festung Europa“6 haben mich die gestrigen Nachrichten über eine restriktive Auslegung von „Anlandezentren ohne Pull-Faktor“ die Augen geöffnet. Die Flüchtlingspolitik von Sebastian Kurz trägt Früchte – und zeigt so ihr wahres Gesicht.7 Deshalb gilt es, „dem Rad in die Speichen zu fallen“ (Dietrich Bonhoeffer). |
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4 Vgl. die Novelle von Theodor Storm: Der Schimmelreiter; sowie dazu: Wolfgang Palaver, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen (BMT 6). Münster 2001, 189–190.
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7 Vgl. die entsprechende Anweisung aus der Bergpredigt: „Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen." (Mt 7,16-20)
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