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Jahrhundertpersönlichkeit: Johannes Paul II. zum 100. Geburtstag

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:Tiroler Bauernkalender 2020
Datum:2020-05-11

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Am 18. Mai 2020 wäre Johannes Paul II. 100 Jahre alt. Am 2. April 2005 gestorben, ist er „nur“ 85 Jahre alt geworden. Schon ein kurzer Blick auf diese außergewöhnliche Lebensgeschichte rechtfertigt das Urteil, hier haben wir es mit einer „Jahrhundert-Persönlichkeit” zu tun, einem Menschen, der voll und ganz die berühmte Aussage des heiligen Ignatius von Loyola in ihren Wahrheitsgehalt voll und ganz bestätigt. „Nur wenige Menschen ahnen, was Gott aus ihnen manchen würde, wenn sie sich ihm ganz überließen.“ Karol Wojtyła war einer dieser wenigen Menschen. Knapp 20-jährig begegnete er einem einfachen Schneider: Jan Tyranowski. Dieser führte ihn in die Lektüre der mystischen Werke des spanischen Mystikers Johannes von Kreuz ein. Polen war damals von den Nazis besetzt. Der junge Karol arbeitete im Steinbruch. Als Kind verlor er die Mutter und den Bruder, bald wird auch sein Vater sterben. Seine jüdischen Kameraden tauchten unter, oder sind den Nazis zum Opfer gefallen. Mitten in dieser Orgie des Hasses und der Entwürdigung wendet sich der junge Mann dem Mystiker aus dem 16. Jahrhundert zu und liest sein schwieriges Werk: „Die dunkle Nacht der Seele“. Der einfache Schneider aus Krakau, der sich des verunsicherten jungen Mannes annimmt, und die gemeinsame Lektüre des Klassikers der abendländischen Spiritualität stärken sein Vertrauen in den Wert der Heiligkeit im Alltag. Der junge Wojtyła findet dabei die ganz einfache Regel, die fortan sein ganzes Leben regulieren wird: Grenzenloses Vertrauen auf Gott und harte Selbstdisziplin. Das Vertrauen auf Gott wurde bald zur Sicherheit, dass Gott ihn zum Priester berufen hat. Das Studium im Untergrundseminar in Krakau, das im damaligen Generalgouvernement mit der Gefahr der Deportation in ein Konzentrationslager verbunden war (einer seiner Seminarkollegen ist auch von der Gestapo erschossen worden) stärkte seinen Glauben, dass er „bloß“ ein Werkzeug in den Händen Gottes sei. Und seine spezifische Berufung darin liegt, in den dunkelsten Zeiten der Geschichte Zeugnis von der Würde des Menschen abzulegen. Dieser Berufung hat er sich immer wieder in stundenlangen – meist nächtlichen – Gebeten vergewissert und sein Leben immer wieder Gott restlos anvertraut. Seine persönliche Frömmigkeit überrascht durch Einfachheit. Das fängt beim tätlichen „Kindergebet” zum Schutzengel an, seiner Liebe zur Maria („Totus tuus”/Ganz Dein – als sein Motto kann auf Maria und auch auf Gott bezogen werden), seiner Verehrung der Heiligen (auch jener, die ihr Leben während der Nazi- und der Kommunisten-Diktatur verloren haben) und hört auf bei einer biblisch fundierten Mystik und dem Staunen über die grenzenlose Barmherzigkeit Gottes. Sein Leben lang stärkte er die Gewissheit seiner Berufung durch Kontakte zu Menschen und zur Natur. Als junger Priester und Professor organisierte er regelmäßig Jugendlager auf der Masurischen Seenplatte und zeigte sich als leidenschaftlicher Kajakfahrer. Als Erzbischof von Krakau und dann auch als Papst suchte er regelmäßig Berge auf. Schifahren und Bergsteigen zählten zu seinen großen Leidenschaften. Die hohe Tatra in Polen, Alpenurlaube in Aosta Tal waren ihm so etwas wie „Gnadenunterbrechungen” eines durch enormen Stress strukturierten Alltags. Noch mit 68 Jahren bestieg er 1988 den 2694 Meter hohen Monte Peralba in den Karnischen Alpen.

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Und seine Kontakte nach Tirol? Kaum jemand wird es wissen, dass Karol bereits im Jahr 1965 in Innsbruck gewesen ist. Am 12. September 1965 war der damalige Erzbischof von Krakau zusammen mit einem seiner Weihbischöfe zu Gast im Innsbrucker Priesterseminar. Unterwegs nach Rom zur vierten Sitzung des 2. Vatikanischen Konzils, die am 14. September begonnen hat, übernachtete der künftige Papst in der Riedgasse. Im Gästebuch des Seminars findet man einen handschriftlichen Eintrag in wunderschönem Latein: „Pro hospitilitate ... (die Fortsetzung hier in deutscher Übersetzung): Für Eure Gastfreundschaft mit der wir auf unserer Durchreise nach Rom zum II. Vatikanischen Konzil im Bischöflichen Seminar aufgenommen wurden danken wir vielmals. Wir erbitten für Euch alle himmlischen und irdischen Güter. Dasselbe sagen wir mit einem traditionellen Kürzel unserer polnischen Muttersprache: ‚Szczęść Boże‘ (Gott möge euch Glück bescheren)“. Nur am Rande sei erwähnt, dass der Kardinal bei der Unterschrift seinen Vornamen zuerst auf lateinisch zu schreiben begann, dann aber doch das „C“ auf „K“ auskorrigierte und damit ins Polnische zurückfand. Die kleine Episode ist insofern bedeutsam, als es bei der vierten Sitzung des Konzils zu den wohl überraschendsten Beschlüssen – bei denen Karol Wojtyla entscheidend mitgewirkt hat – gekommen ist. Sowohl das Dekret über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen, als auch das Dekret über die Religionsfreiheit und natürlich auch die Konstitution über die Kirche in der Welt von heute sind bei dieser Sitzung verabschiedet worden. Rückblickend wage ich die Behauptung, dass gerade bei dieser Sitzung das zukünftige Pontifikat von Johannes Paul II. von der Vorsehung Gottes mitentschieden wurde. Innsbruck hat also, wenn auch unbewusst, eine zentrale Rolle in der Geschichte der Kirche mitgespielt. Für jene, die am 27. Juni 1988 am Bergisel dabei waren, sind natürlich die Stunden des päpstlichen Besuchs in Tirol unvergesslich. Bei seinem zweiten Österreichbesuch (23.–27. Juni) ist Johannes Paul II. am 27. Juni in Innsbruck gewesen, hat sich (im Tivoli-Stadion) mit Kindern und Jugendlichen getroffen und feierte eine Marienvesper in der Basilika Wilten (im Stift hat er auch zu Mittag gegessen und einen Mittagschlaf genossen). Nicht einmal drei Wochen später kam er – im Rahmen seines jährlichen Alpenurlaubs – am 17. Juli nach Maria Weißenstein, sah mit eigenen Augen auch jene Kirche, der er drei Jahre vorher den Titel Basilika minor verliehen hat.

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Was hat also Gott aus diesem Menschen gemacht? Unsere schnelllebige Zeit hat es inzwischen wohl vergessen, was sich am 8. April 2005 bei der Begräbnisfeier von diesem Papst abgespielt hat. Rom platzte aus allen Nähten. 3,5 Millionen Menschen kamen zur Beerdigung von diesem „Jahrhundert-Menschen“, entrollten Transparente, riefen und sangen refrainartig: „santo subito“. Warum taten sie das? Nur deswegen, weil er der erste Papst war, der aus der „Ferne kam” und der Kirche und der Welt eines der längsten Pontifikate bescherte? Nur deswegen, weil sein Stil von Anfang an atemberaubend und auch atemraubend war, weil sich in seinen (104) Reisen (in 127 Länder), in seiner unglaublichen Medienpräsenz, bei seinen „Bädern in der Menge“, schlussendlich in dem geduldigen Ertragen seiner Parkinson-Krankheit der Geist unserer modernen und schnelllebigen Zeit verdichtete? Nur einige jener Taten, die sichtbar vom Heiligen Geist inspiriert wurden, sollen hier in Erinnerung gerufen werden. Und dies gerade deswegen, weil sie den traditionellen Katholizismus in Erstaunen versetzten. Gerade dieser Papst hat nämlich, wie kaum ein anderer wahre Revolutionen in der Kirche gewagt: Er selber lud am 27. Oktober 1986 die Vertreter der (nicht christlichen) Religionen zu einem Gebetstreffen um den Frieden nach Assisi ein, musste sich deswegen von den ultrakonservativen Katholiken und Protestanten den Vorwurf des Götzendienstes gefallen lassen. Am 26. März 2000 presste er seinen Gebetszettel in die Ritze der Klagemauer am Jerusalemer Tempelberg hinein. Am 6. Mail 2001 küsste er vor den Kameras der Weltöffentlichkeit in der Ummayadenmoschee in Damaskus den Koran. 1984 rief er den Weltjugendtag ins Leben, eine inzwischen längst bestbewährte und von den Nachfolgepäpsten übernommene Institution, die Millionen und Abermillionen von Jugendlichen mit der lebendigen Kirche konfrontiert. Am 13. Mai 1983 (am Fest der Mutter Gottes von Fatima) bei dem Attentat am Petersplatz lebensgefährlich verletzt. Kaum dass er das Bewusstsein wiedergewinnt, vergibt er dem Attentäter und besucht diesen später im Gefängnis. Ein besonderes Kapitel dieses Pontifikats stellen die Selig- und Heiligsprechungen dar. Mit 482 Heiligsprechungen und 1345 Seligsprechungen hat er den „Rekord gebrochen“. Auch in  inhaltlicher Hinsicht beschritt er mutig neue Wege. So hat er „den offiziellen Himmel“ unserer Zeit nähergebracht. Unzählige Märtyrer und Märtyrerinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Kommunismus wurden durch ihn zur Ehre der Altäre gehoben, darunter auch einige Tiroler: Otto Neururer, Jakob Gapp.

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Und was hat Gott aus diesem Menschen im Hinblick auf die Gestaltung der Weltpolitik gemacht? „Ich lebe mitten in einem Wunder!“ Mit diesen Worten begrüßte am 21. April 1990 Vaclav Havel diesen Papst bei seinem ersten Besuch in einem „postkommunistischen Land.“ Das Wunder, von dem der tschechische Präsident sprach, nahm seinen Lauf am 16. Oktober 1978. Mit der Wahl von Karol Wojtyła auf den „Stuhl Petri“ fing auch die europäische Nachkriegsordnung zu wackeln. Als der berühmteste Dissident der damaligen Zeit Alexander Solschenizyn von der BBC die Nachricht hörte, dass ein Pole zum Papst gewählt wurde, fing er an zu tanzen und freudig zu schreien: „Dieses Ereignis wird alles verändern!“ Zumindest der Einfluss des Pontifikats auf die Selbstwahrnehmung von Menschen in Polen kann wirklich kaum überschätzt werden. Die erste Reise des Papstes in sein Heimatland im Jahr 1979 kann im Rückblick in der Weltöffentlichkeit den Rang einer der größten kulturellen Sensationen beanspruchen. Die versteinerten bolschewistischen Machthaber der letzten Breschnew-Generation in Moskau beneideten die polnischen Marionetten keineswegs, denn diese mussten ja mit allem rechnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Kommunismus sahen sich die Machthaber gezwungen, öffentliche religiöse Versammlungen zuzulassen. Und dies nicht für ein paar tausend Gläubige, denn dies gehörte schon längst zum polnischen Alltag. Aber Hunderttausende von Menschen auf einem Platz? Wer kann das noch unter Kontrolle halten? Und doch: Erst als die Polizei von den Straßen verschwunden war, kehrte dort Ordnung ein. Eine ganze Generation von Polen vergisst den Auftritt des dynamischen polnischen Heiligen Vaters auf dem Siegesplatz in Warschau am 2. Juni 1979 nicht. Auf jenem Platz, auf dem die Polen das Grab des „unbekannten Soldaten“ verehren und den die kommunistischen Machthaber seit 40 Jahren für ihre Propaganda missbrauchten, rief der Papst: „Es steige herab der Geist und erneuere das Antlitz der Erde. Dieser Erde!“. Der kleine Zusatz glich einem Zünder, der die Lunte anzündet. Viele Zeithistoriker stimmen darin überein, dass in Moskau politische Panikstimmung ausbrach, als die Nachricht von der Wahl des polnischen Papstes bekannt wurde. Das geflügelte Wort von Stalin: „Wie viele Divisionen hat denn der Papst?“ mag zwar nicht mehr einen entscheidenden Platz in den Phantasien der Breschnew-Anhänger eingenommen haben, und trotzdem fürchteten die kommunistischen Machthaber die öffentliche Darstellung der Stärke des religiösen Glaubens wie der sprichwörtliche Teufel das Weihwasser fürchtet. Unvorstellbar ist auch die Enge der kommunistischen Apparatschiks. Der damalige Vorsitzende des polnischen Ministerrats begrüßte den Papst (und ließ dies durch das polnische Fernsehen übertragen) mit dem Hinweis, dass Polen den Sozialismus baue, worauf der Papst antwortete, dass die Einhaltung der Menschenrechte eigentlich genügen würde. Über die vatikanische Unterstützung der ersten unabhängigen Gewerkschaftsbewegung in einem kommunistischen Land „Solidarność“ und auch die Achse Vatikan-Washington sind inzwischen Bände geschrieben worden. Gerade weil der Papst über keine Divisionen verfügte, konnte er kräftig dazu verhelfen, das morsch gewordene kommunistische System im richtigen Augenblick gewaltfrei zu stürzen.

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War sich dieser Papst seiner besonderen – ihm von der Vorsehung zugedachten – Rolle bewusst? Als am 16. Oktober 1978 der damalige Kardinal von Krakau zum Papst gewählt wurde, erinnerte ich mich an ein Gedicht, das die Gymnasiasten in Polen auswendig lernen. Es ist der Monolog eines romantischen Helden aus dem Nationalepos „Kordian” von Juliusz Słowacki (1809-1849). Der Dichter lässt seinen Helden auf dem Gipfel Mont Blanc das damalige Europa überblicken. Was er sieht ist Chaos, politische und kulturelle Dekadenz. Weil die Träger der politischen Verantwortung korrupt und unfähig sind, scheint es keine Hoffnung für Europa, besonders aber für Polen zu geben. Die katholische Nation kann nicht einmal auf den regierenden Papst hoffen. Die Stimmung der absoluten Hoffnungslosigkeit wird durch eine prophetische Vision gekippt: Ein slawischer Papst wird kommen! Er wird nicht nur die römische Kirche zu ihrer Sendung zurückführen, sondern durch diese auch Europa heilen und damit auch Polen retten. Diese Vision eines slawischen Papstes bildet den logischen Höhepunkt des polnischen Messianismus im 19. Jahrhundert. Aufgeteilt unter Russland, Preußen und Österreich schien Polen damals endgültig von der Landkarte verschwunden zu sein. Nachdem mehrere Aufstände kläglich scheiterten, suchten die Intelligenz und auch das einfache Volk die moralische Kraft aus den Utopien zu schöpfen. Die Analogie zwischen Leiden Christi und dem Leiden der Nation ermöglichte die Hoffnung auf die „Auferstehung Polens“; der Weg dorthin führt über die innere Erneuerung, den radikalen Einsatz des eigenen Lebens und auch das Leiden. Ich weiß nicht, ob Karol Wojtyła sich bei seiner Wahl an das Gedicht erinnerte, das auch er auswendig gelernt hatte. Millionen von Polen taten es aber und sie tun es bis heute, wenn sie in ihm diese quasi messianische Gestalt eines slawischen Papstes sehen und mit ihm jene Hoffnungen verbinden, die die Polen auch schon im 19. Jahrhundert gehabt haben: Erneuerung der Kirche und die Rettung Europas durch diese Kirche. Etliche Jahre nach seinem Tod bin ich mir sicher, dass auch er selber sich und seine Rolle in der Kirche und Welt in diesen messianischen Kategorien interpretierte. Aus diesem Glauben gewann er nicht nur seine Kraft, sondern vor allem seine Motivation, die Kirche und auch die Welt nachhaltig zu verändern. Es war nicht der Weg der Gewalt und primär auch nicht der der Strukturreform, sondern der der inneren Erneuerung, des Leidens und eines radikalen Einsatzes der eigenen Person. Nur auf diesem Hintergrund ist auch das Zeugnis des „alten und kranken Mannes“ zu verstehen. In den letzten Monaten und Wochen seines Lebens bezeugte er klar, dass durch das angenommene Leiden kulturelle und kirchliche Veränderungen von enormer Effizienz bewirkt werden können.

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