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Theologie als Ethik?
(Antwort auf den Vortrag von Chefredakteur Claus Reitan am Fakultätstag)

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:# Beitrag am Fakultätstag 2002: Theologie treiben in Zeiten des Krieges
Datum:2002-03-25

Inhalt

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Sehr geehrter Herr Reitan, geehrte Damen und Herren,

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ein wesentlicher Aspekt in Herrn Reitans Darstellung schien mir die ethische Dimension des Religiösen zu sein. Allerdings hatte ich bei Ihren Ausführungen den Eindruck, als sei die Ethik nicht nur eine Dimension des Religiösen, sondern Religion und Ethik seien letztlich dasselbe - nur eben das eine mit Gott als Begründung und das andere, das moderne, könne die Menschenrechte und Personwürde etc. auch ohne Gott begründen, wie das heute eben der Fall sei.

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Nun, ich bin kein Ethiker, sondern Dogmatiker - und gerade deshalb ist meine Antwort auf Herrn Reitan eine Argumentation gegen diese Gleichsetzung von Religion und Ethik. Ich hoffe allerdings sehr - und vermute das auch -, dass mir unsere Ethiker nicht widersprechen würden, wenn ich in drei Punkten versuche, den Mehrwert der Theologie darzustellen.

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Vorher ist allerdings zuzugeben, dass Theologie natürlich eine ethische Komponente hat und dass diese Komponente gerade dort, wo Theologie in die Gesellschaft (in unsere oder eine andere) hineinwirken will und soll, von besonderer Bedeutung ist, dennoch ist sie auch dort nicht das Ganze der Theologie.

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  Dies möchte ich nun in drei Thesen darstellen:

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1. Keine letzte Begründung der Menschenwürde ohne Gott

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Richtig ist, dass faktisch die Menschenrechte, die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, etc. ohne Rekurs auf Gott auskommen. Dies gehört zum Selbstverständnis unserer pluralistischen Staaten und der durch sie garantierten Religionsfreiheit, die die Freiheit keine Religion zu haben miteinschließt.

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Richtig ist auch, dass es viele hochmoralische, ehrenwerte Menschen gibt, die diese Menschenrechte festhalten, von ihnen überzeugt sind, für sie eintreten und kämpfen, ja u. U. für sie ins Gefängnis gehen oder sterben, und sich selbst als nicht religiös, a- religiös oder gar atheistisch verstehen. Bedeutet dies aber, dass die Menschenrechte tatsächlich ohne jede Religion Bestand haben können?

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Eines der ältesten, wenn nicht das älteste politische Dokument, das unveräußerliche Menschenrechte - noch wenige, noch unvollkommen, und noch nur für Männer - reklamiert, ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. Dort heißt es: „We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness." (1) Die Menschenrechte werden hier also durch Rekurs auf (einen deistisch verstandenen) Gott begründet. Nun gut, das war im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts - da war man eben noch nicht so weit, könnte man sagen. Die Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 erwähnen dann auch Gott nicht mehr, nicht als Schöpfer und auch sonst nicht - aber sie formulieren, den interessanten Hinweis verdanke ich W. Palaver: „All human beings … are endowed with reason and conscience" (2) ; - nur von wem ihnen dies verliehen wurde, bleibt unerwähnt.

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Entwicklungsgeschichtlich ist also der moderne Gedanke der Menschenrechte von christlicher Schöpfungstheologie abhängig, diese Abhängigkeit wurde aber immer undeutlicher und verblasste schließlich ganz.(3) Heißt das aber, dass es sich dabei nur um die berühmte Leiter handelte, die man, erst einmal auf dem Dach angekommen, nicht mehr braucht - oder gehört zumindest eine Offenheit für die Transzendenz zu den Säulen, die dieses Dach der Menschenrechte tragen?

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Ich vertrete diesen Standpunkt. Ihn zu beweisen ist hier nicht möglich und dürfte auch auf größerem Raum nicht leicht sein. Dennoch: Die Würde des Menschen und seine Rechte sind auch in unseren westlichen Demokratien nicht so sicher und selbstverständlich, wie es scheinen möchte. Wenn die Würde des Menschen nicht mehr von dem, was ihm verliehen wurde, sondern von dem, wozu er fähig ist, abgeleitet wird, dann scheint mir die Ethik Peter Singers kohärenter und konsequenter zu sein als die allgemeine Erklärung der Menschenrechte; dann hat ein menschlicher Säugling, der weniger kann als ein erwachsener Schimpanse, auch weniger Rechte als dieser Affe - und Singer meint dies weder zynisch noch menschenverachtend, sondern wirklich als ethische Überlegung, die Mensch und Tier gerechter werde. (4)

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Meine These ist also, dass die Offenheit auf die Transzendenz für die Begründung der Menschenwürde und der daraus entspringenden Rechte und Pflichten systematische, und nicht nur historische, Bedeutung hat. Diese Offenheit immer wieder anzumahnen, ist bleibende Aufgabe der Theologie und einer christlichen Philosophie.

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2. Glaube als neue Sicht der Wirklichkeit

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Damit bin ich aber beim Zweiten: Glaube erschöpft sich nicht in Moral und Theologie nicht in Ethik. Dies ist eine Ecke, in die sich die Theologie in einer Abwehrstellung gegen die Aufklärung und in Österreich speziell im Josephinismus hat drängen lassen - die von Herrn Reitan angesprochenen Probleme mit der kirchlichen Sexualmoral sind nur eine negative Folge davon. Eine andere, und die in diesem Zusammenhang wohl wichtigere: dass der Mehrwert von Glaube und Theologie nicht mehr deutlich wird.

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Ein Blick in die biblischen Schriften zeigt aber sofort, dass diese moderne Sicht unserem Glauben Unrecht tut: Die Du-Sollst-Nicht-Gebote werden erst eingeführt, nachdem klar ist: „Ich bin … dein Gott, der dich … aus dem Sklavenhaus [geführt hat]." (Ex 20,2). Der Mann aus Nazareth konnte ein neues Verhalten der Menschen erst fordern, nachdem er ihnen von einem beschenkenden, vergebenden und liebenden Gott erzählt hatte. Kurz: Christliche Ethik ist eine Folge aus einer durch neue Erfahrungen gewonnenen neuen Sicht der Wirklichkeit, von Welt, Gott und Selbst. Diese Sicht ist der Mehrwert des Glaubens, und der Mehrwert, den Theologie auch zu reflektieren hat.

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Und auch diesen Mehrwert hat sie in die gesellschaftliche Diskussion einzubringen: Ethik kann erbarmungslos sein. Religiöser Fanatismus desgleichen. Biblisch fundierter Glaube sollte die Erbarmungslosigkeit des Fanatismus als Götzendienst sehen lernen - aber die Erbarmungslosigkeit der Ethik und der Moral, wie richtig diese auch sein mag, desgleichen. Auch hier eine bleibende Aufgabe der Theologie.

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3. Die Ratlosigkeit der Ethik vor dem Versagen

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Und schließlich: Ob Normen als gottgesetzt verstanden werden oder nicht, Ethik ist darauf angewiesen, dass Menschen sich ihr gemäß verhalten. Unsere Erfahrung ist aber ständig, dass wir selbst und alle anderen darin versagen.

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Die Sicht des Glaubens ist die, dass die Ethik nicht das letzte Wort hat. Das letzte Wort hat für den Glauben Gott; für den christlichen Glauben der Gott, der die Opfer des menschlichen ethischen Versagens ins Leben zurück bringen kann, und der selbst den Tätern noch einmal Versöhnung anbietet. Die vielleicht immer wieder als floskelhaft empfundene Rede vom Vergeben und Versöhnen, die als Vertröstung empfundene Epistel von der Auferweckung der Opfer birgt plötzlich höchste Brisanz in sich, wenn wir sie nur auf das anwenden, bei dem es uns - nach den Maßstäben der irdischen Ethik und Gerechtigkeit - am wenigsten in den Sinn kommt, dort wo die Wunden am schmerzvollsten und die Opfer am bedauernswertesten sind.

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Dies ist unter anderem dort, wo Krieg tobt (falls jemand gemeint hätte, ich hätte das Thema des heutigen Tages vergessen): Kann es Frieden geben im Nahen Osten ohne das Aufrechnen zu beenden und die Opfer und Täter der lebensschaffenden und gerechtmachenden Kraft Gottes zu überlassen? In Nordirland? Zwischen New York und Kabul? Zwischen den westlichen Völlern und den afrikanischen Hungernden?

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Ich denke auch hier ist eine bleibende, über die Ethik hinausgehende, und die Ethik doch zugleich auch einschließende Aufgabe von Religion und Theologie: Die Stimme der Opfer hat gehört zu werden, denn totgeschwiegenes Unrecht ist zweimal tötendes Unrecht. Wenn die Stimme der Opfer aber zur Vergeltung aufruft, ist sie auf dem Weg zur Stimme neuer Täter zu werden. Die Theologie kann Versöhnungsbereitschaft nicht einklagen oder einfordern - diese würde sonst nur zu einem weiteren Gebot, an dem wir wiederum allzu oft versagen. Aber sie kann uns darauf hinweisen, dass Gott so vorgeht. Wenn dies unsere Sichtweise wirklich durchprägt und durchwirkt, dann werden wir ein Stück weit dazu fähig. Die Theologie hat dazu ihren kleinen und bescheidenen, aber dennoch unersetzlichen Beitrag zu leisten.

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Itzchak Rabin, der israelische Ministerpräsident, der für seinen Friedenswillen von einem Glaubensbruder ermordet wurde, hat es so gesagt: „Frieden schließen kann man nur mit seinen Feinden." Dies setzt einen gläubigen Umgang mit dem ethischen Versagen dieser Feinde und mit dem eigenen Verwundet-Sein voraus.

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Anmerkungen:  

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 1. Zitiert nach der Webseite der National Archives and Records Administration am 2. 3. 2002: http://www.nara. gov/exhall/charters/declaration/declaration.html

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2. Universal Declaration of Human Rights. Adopted and proclaimed by General Assembly resolution 217 A (III) of 10 December 1948. Article 1: http://www.un.org/Overview/rights.html

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3. Vgl.: Taubes, J.: Vom Kult zur Kultur. Bausteine zu einer Kritik der historischen Vernunft. München 1996, 264f.

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4. Vgl.: „Nicht alles Leben ist heilig". Philosoph Peter Singer über den moralischen Status von Embryonen, das Lebensrecht von Neugeborenen und die Revolution der westlichen Ethik. In: DER SPIEGEL 47/2001, 26. 11. 2001, S. 236f. oder http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,druck-170569,00.html, (Link zuletzt überprüft am 2. 3. 2002).

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