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Schuldfähigkeit wäre jetzt gefragt. Einwurf in eine laufende Diskussion

Autor:Wandinger Nikolaus
Veröffentlichung:
Kategoriekommentar
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2022-01-26

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Der Ausdruck „Schuldfähigkeit“ könnte bedeuten, dass Menschen die Fähigkeit haben, schuldig zu werden. So verstanden drückte er aber eine Binsenweisheit aus und wäre uninteressant. Józef Niewiadomski hat diesen Begriff in seinen Vorlesungen anders verwendet, nämlich um die Fähigkeit des Menschen zu bezeichnen, eigene Schuld anzuerkennen ohne dadurch in Selbstablehnung zu verfallen oder die Schuld zu bagatellisieren – so meine Umschreibung für das Gemeinte.

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Diese Schuldfähigkeit wird nach Niewiadomski durch die Auferstehung Christi geschenkt, die es ermöglicht, dass Menschen – egal wie schwer ihre Schuld ist – Hoffnung auf Vergebung haben können. Paradebeispiel dafür ist Petrus, der unter Tränen erkennt, was er getan hat, als er Jesus verleugnete. Diesem Petrus vertraut Jesus seine „Lämmer“ an, allerdings erst, nachdem er ihn so lange fragte, ob er ihn liebe, bis Petrus traurig wurde (vgl. Joh 21,15-18).

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Das Matthäusevangelium drückt die Problematik des Petrus noch krasser aus: Da wird dieser Mann von Jesus zuerst als Fels gepriesen, auf den Jesus seine Kirche bauen werde, welche die Pforten der Unterwelt nicht überwältigen werden (vgl. Mt 16,18). Doch nur wenige Verse weiter wird er als „Satan“ bezeichnet, der Jesus „ein Ärgernis“ sei, „denn du hast nicht das im Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen“ (Mt 16,23). Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass das Neue Testament sie uns überhaupt überliefert hat. Als die Evangelien entstehen, ist dieser Petrus bereits als Märtyrer in Rom hingerichtet und gilt als großer Heiliger und begnadeter Anführer. Doch das Neue Testament weiß, dass die Kirche eine Gemeinschaft der Bekehrten ist, der sündigen Menschen, die sich ihrer Sünde bewusst sind und sie der Vergebung des Auferstandenen anvertrauen. Für die Autoren des Neuen Testaments ist evident, dass die Verfehlungen des Petrus nicht verschwiegen werden müssen, sondern berichtet werden sollen, weil sie gleichermaßen die Größe der Vergebungsbereitschaft Gottes und die Schuldfähigkeit des Petrus zeigen.

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Karl Rahner hat die Episode, in der Jesus auf die Ehebrecherin trifft (vgl. Joh 8,1-11), kreativ auf die Kirche angewendet, die im letzten Gericht als reuige Sünderin vor ihrem Herrn steht: „Sie denkt an ihre Sünden, weil sie sie wirklich begangen hat, und sie vergißt darüber […] die verborgene und die offenbare Herrlichkeit ihrer Heiligkeit. Und so will sie nicht leugnen. Sie ist die arme Kirche der Sünder. Ihre Demut, ohne die sie nicht heilig wäre, weiß nur von ihrer Schuld. Und sie steht vor dem, dem sie angetraut ist, vor dem, der sie geliebt und sich für sie dahingegeben hat, um sie zu heiligen, vor dem, der ihre Sünde besser kennt als alle ihre Ankläger. […] In allen Jahrhunderten stehen neue Ankläger neben ‚diesem Weib‘ und schleichen immer wieder davon, einer nach dem andern, von den Ältesten angefangen; denn es fand sich nie einer, der selbst ohne Sünde war. Und am Ende wird der Herr mit dem Weib allein sein. Und dann wird er sich aufrichten und die Buhlerin, seine Braut anblicken und sie fragen: ‚Weib, wo sind sie, die dich anklagten? Hat keiner dich verurteilt?‘ Und sie wird antworten in unsagbarer Reue und Demut: ‚Keiner, Herr.‘ Und sie wird verwundert sein und fast bestürzt, daß keiner es getan hat. Der Herr aber wird ihr entgegengehen und sagen: ‚So will auch ich dich nicht verurteilen.‘“[1]

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Józef Niewiadomski sieht dies in seinem Facebook-Eintrag vom 21.1.2022 nicht nur – wie Rahner – als eschatologisches Hoffnungsbild, sondern auch als möglichen Kommentar auf die Kritik an der Kirche und ihr erneut zutage getretenes Versagen im Umgang mit sexuellem Missbrauch.[2] Es hat sich darauf auf seiner Facebook-Seite eine in der Sache kontroverse, im Ton sehr respektvolle, Diskussion ergeben. Darin stellt Niewiadomski klar, dass er sich nicht gegen juristische Aufklärung wendet, sondern die mediale Öffentlichkeit und ihre Sprachprägungen kritisch im Blick habe. Ich denke, diese Kritik bedarf größerer Differenzierung, ist dann aber zum Teil durchaus berechtigt.

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Dennoch glaube ich nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt für sie ist, zumal nicht von Vertretern der Kirche selbst. Wir können hier nicht in eigener Sache sprechen, sondern müssen das anderen überlassen. – Und wenn sich keiner findet, müssen wir die Konsequenzen erleiden. – Die Verbrechen kirchlicher Amtsträger und deren Vertuschung stellen – zusätzlich zu dem Leid, das sie über die Betroffenen gebracht haben – Akte kirchlichen Gegenzeugnisses dar. Als „Gegenzeugnis“ hat Papst Johannes Paul II. Handlungsweisen im Namen der Kirche bezeichnet, die das Gegenteil von dem bezeugen, was die Kirche eigentlich bezeugen sollte.[3] In anderem Zusammenhang habe ich bereits ausgeführt: Wenn die Kirche ein Gegenzeugnis gibt, wird sie „zum Gegenzeichen und damit zum Werkzeug des Gegenteils, sie wirkt gegen ihren eigenen Auftrag. Deshalb würde sie ihren Auftrag ein zweites Mal verfehlen, wenn sie nicht alles täte, um dieses Gegenzeugnis wieder zu revidieren.“[4]

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In jedem Fall wäre gerade jetzt jene Schuldfähigkeit, die den Petrus ausgezeichnet hat, das Gebot der Stunde. Nicht der Hinweis, dass alle gesündigt haben, auch nicht die Behauptung eines bloßen Versehens, sondern das Eingeständnis, wo und wie jeweils ich gesündigt habe, ist jetzt gefragt – auch und gerade von einem der Nachfolger dieses Petrus.

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Anmerkungen

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[1] Rahner, Karl: Kirche der Sünder. In: ders.: Sämtliche Werke 10: Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz. Bearb. v. J. Heislbetz u. Albert Raffelt. Freiburg 2003, 82–95, 95.

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[2] Vgl. https://www.facebook.com/profile.php?id=100011000505690, 21.1.22; von dort Link zur einer Predigt vom 16.5.2010: https://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/868.html.

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[3] Vgl. Johannes Paul II., Papst: Apostolisches Schreiben ›Tertio Millennio Adveniente‹. An die Bischöfe, Priester und Gläubigen zur Vorbereitung auf das Jubeljahr 2000, 1994. Heiliger Stuhl. Online: http://www.vatican.va/content/john-paul-ii/de/apost_letters/1994/documents/hf_jp-ii_apl_19941110_tertio-millennio-adveniente.html [08/11 2020], Nr. 33.

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[4] Wandinger, Nikolaus: ›Wir vergeben und bitten um Vergebung‹. Kommentar zu den kirchlichen Schuldbekenntnissen und Vergebungsbitten des Ersten Fastensonntags 2000. In: Schwager, R. / Niewiadomski, J. (Hg.): Religion erzeugt Gewalt – Einspruch! Innsbrucker Forschungsprojekt ‚Religion – Gewalt – Kommunikation – Weltordnung‘ (Beiträge zur mimetischen Theorie 15). Münster 2003, 143–179, 175.

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