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| Die Ukraine-Invasion hat für weltweite Bestürzung gesorgt. PolitikerInnen gestanden ein, dass sie belogen wurden und sich allzu bereitwillig täuschen ließen. Eine noch nicht dagewesene Serie von westlichen Dialogbemühungen, erscheint nun rückblickend von russischer Seite her wie ein bloßes Theater. Nicht diplomatische Verständigung war gefragt, sondern die Unterwerfung des Westens unter ein russisches Diktat: Dabei ging es Putin um mehr als um die verbindliche Zusage, dass die Ukraine niemals der NATO beitreten dürfe. Er forderte „konkrete Vereinbarungen ..., jedwedes weitere Vorschreiten der Nato nach Osten und die Stationierung von bedrohlichen Waffensystemen in unmittelbarer Nähe des Gebiets der Russischen Föderation ausschließen“1, wobei er selber gleichzeitig unabhängige Staaten wie Ukraine und Georgien so unter Druck zu setzte, dass diese Schutz bei der NATO suchten. |
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| Aber selbst wenn der Westen die geforderten verbindlichen Zusagen gegeben hätte, wäre die Ukraine-Invasion nicht abgewandt gewesen. Jedenfalls wäre die russische Anerkennung der ostukrainischen Separatistengebiete dennoch erfolgt – verbunden mit der (nach russischer Diktion) „Friedensmission“, um die dortigen Russen vor den „Nazis“ und den von ihnen betriebenen „Völkermord“ zu retten. Ohne Ausschaltung des ukrainischen Militärs wäre das nicht möglich gewesen. So müssen wir annehmen, dass ein militärischer Angriff auf die Ukraine von Anfang an choreographiert war. Die Pläne waren längst entworfen und lange vorbereitet, inklusive einer Immunisierung gegen allfällige westliche Sanktionen. |
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| Dazwischen: Lüge über Lüge von seiten des gegenwärtigen Regimes in Russland. Kein Wunder, dass der Glaube an den Dialog bei vielen erschüttert ist – eines Dialogs zumindest, der nicht aus einer Position echter Stärke und Abschreckung erfolgt. |
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| „Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben. Wir haben nach Georgien, Krim und Donbass nichts vorbereitet, was Putin wirklich abgeschreckt hätte. Wir haben die Lehre von Schmidt und Kohl vergessen, dass Verhandlungen immer den Vorrang haben, aber man militärisch so stark sein muss, dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann.“2 |
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| So twitterte die frühere deutsche Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer. Aber die Lehre, an die sie erinnerte, gilt nicht nur für militärische Stärke! Es gibt auch Sanktionen, die so stark sein können, „dass Nichtverhandeln für die andere Seite keine Option sein kann“. Dazu müssten sie aber massiv gesteigert werden: mit einem Embargo für Öl und Gas sowie mit dem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem.3 |
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| Aber das wird Europa kaum tun! Der Schaden für die Wirtschaft und für die europäische Bevölkerung wäre zu groß, als dass solche Entscheidungen demokratisch tragfähig wären. – So dürfte jedenfalls Putin kalkuliert haben. |
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| Wäre es dennoch möglich, dass Putin sich verrechnet hat? Insgesamt scheinen Wirtschaftssanktionen ein eher schwaches Mittel zu sein, um politisch Druck zu erzeugen. Weltweit hatte nur ein Drittel seit 1950 einen nachweisbaren Erfolg.4 Dies liegt nicht zuletzt darin, dass man mit Sanktionen auch sich selbst schadet, sodass sie zumal unter demokratischen Rücksichten nicht selten zahnlos ausfallen: rhetorisch aufgeblasen, aber nur wenig wirksam.5 |
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| Könnte das auch anders sein? Aber wer wird sich schon selber ins Knie schießen oder eigene Brücken in die Luft sprengen? Letzteres ist im Kriegsfall von überrannten Ländern mehrfach geschehen und konnte auch erfolgreich sein. Dazu brauchte es Mut, Kaltblütigkeit, auch Opferbereitschaft – mit der Entscheidung, kurzfristig schweren Schaden in Kauf zu nehmen, um längerfristig noch Schlimmeres zu verhindern. Wo es sich so verhält, ist Opferbereitschaft nicht irrational. |
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| Schwerwiegende Wirtschaftssanktionen wie der Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem bricht zwar auch Brücken ab, aber zerstört sie nicht dauerhaft. Dennoch können die Auswirkungen auf eigene Wirtschaftsbetriebe und Banken, steigende Inflation, explodierende Energiekosten und möglicherweise Energie-Engpässe vor allem beim Erdgas die Wirtschaft schwer belasten und viele Menschen in soziale Notsituationen treiben. Solche Schritte zu setzen, ist ethisch fragwürdig und demokratiepolistisch schwer durchsetzbar. Dennoch kann es rational und auch moralisch geboten sein, wenn sich dadurch weit schlimmere Folgen abwenden lassen. |
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| Es spricht einiges dafür, dass genau das im Verhältnis Europas zum derzeitigen russischen Regime der Fall ist. Die Ukraine-Invasion wäre der Welt möglicherweise erspart geblieben, wenn der Widerstand der EU und der internationalen Staatengemeinschaft gegen die Okkupation der Krim acht Jahre früher entschiedener ausgefallen wäre. Das Putin-Regime hat daraus gelernt, dass es nur mit einem sehr begrenzten Widerstand der westlichen demokratischen Staaten rechnen muss und kaltblütig für eine Okkupation der Ukraine zu erwartende mittleren Sanktionen in Kauf genommen. Sollte diese Rechnung aufgehen – und mit den bis heute beschlossenen Sanktionen wäre das der Fall – dann müssen wir damit rechnen, dass Putin seine geopolitischen Pläne noch weiter treibt: nämlich „russische Erde wieder einzusammeln“,6 indem er die Verluste von 1991 aus dem Zerfall der Sowjetunion nach und nach wieder rückgängig macht. Seit 2008 finden wir hier näherungsweise einen Sieben-Jahres-Rhythmus: Georgien 2008, Krim 2014, Ukraine 2022. Was wird in den nächsten Jahren kommen? Die restlichen Weststaaten der ehemaligen UdSSR, die nicht NATO-Mitglied sind? Und was ist mit den NATO-Staaten des Baltikums? Auch in Estland, Letland und Litauen gibt es Russen, die man als verfolgt hinstellen kann, um sie dann in „Friedensmissionen“ zu „befreien“. Und wird eine NATO-Mitgliedschaft das gegenwärtige russische Regime aufhalten? Bis jetzt vielleicht, aber in den Jahren 2008, 2014 und jetzt 2022 hat Russland bei seinen Überschreitungen des Völkerrechts die Grenzen immer weiter hinausgeschoben. Wenn es dabei nicht auf entschiedensten Widerstand stößt, und zwar jetzt, wird es auch daraus lernen und sich künftig auch vor einer NATO-Mitgliedschaft nicht abschrecken lassen. Nachdem Putin jetzt schon den Westen vor jeder militärischer Unterstützung der Ukraine mit Hinweis auf seine Atomwaffen gewarnt hat, besteht keine Sicherheit, dass er diesen Konflikt mit der NATO nicht vom Zaun brechen wird. Ein Bündnisfall für die NATO könnte in einigen Jahren eintreten – mit Konsequenzen bis hin zu einem Atomkrieg. |
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| Um das zu vermeiden, muss Russland jetzt die Erfahrung einer wirklich maximalen Sanktionspolitik machen, die Putins Rückhalt, die er mit dieser Politik bis jetzt noch bei der Bevölkerung hat, zum Schwinden bringt. Nicht nur Putin, sondern autoritäre Staaten weltweit müssen lernen, dass Übergriffe auf unabhängige Staaten sich schon ökonomisch nicht rechnen. |
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| Wenn das durch einen Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem und durch ein Gas- und Ölembargo erreicht wird, dann hat die Welt nicht nur eine weitere Destabilisierung abgewendet, sondern an Stabilität gewonnen. Und der Druck auf ein massives militärisches Wettrüsten würde zumindest geringer werden.7 |
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| Die westlichen Demokratien müssen jetzt beweisen, dass sie zu einem einmütigen, entschlossenen und schlagkräftigen Widerstand gegen eine derartige Verletzung des Völkerrechts fähig sind – mit den maximalen Mitteln, die nichtmilitärisch zur Verfügung stehen. Nur so können noch schlimmere Übertretungen verhindert und ein künftiger Weltfriede sichergestellt werden. Weil das auf dem Spiel steht, sind maximale Sanktionen trotz des Schadens, den er für uns bedeutet, rational vertretbar und auch geboten. |
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| Das gibt uns zugleich die Mittel zu einer tatkräftigen Solidarität mit der Zerstörung erleidenden Ukraine in die Hand, die diese verdient8 – über eine bloße Betroffenheitsrhetorik hinaus. Denn alles, was weniger ist als diese maximalen Sanktionen, macht uns zu Mitspielern einer Farce, die an Zynismus schwer zu überbieten ist: Während die Medien ohne Ende Erschütterung über diesen rechtlosen Angriffskrieg proklamieren, mit dem wiederholten Versprechen, Putins Regime wirtschaftlich vollständig zu isolieren, finden sich zugleich beruhigende Mitteilungen, dass das russische Erdgas weiter in unsere Länder fließt – durch die Ukraine, die gerade zerstört wird! |
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| Jedenfalls kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass Putin ein Öl- und Gasembargo sowie einen Ausschluss aus dem SWIFT-Zahlungssystem der EU nicht zutraut und deshalb auch nicht damit gerechnet hat.9 Das hängt natürlich damit zusammen, dass die Belastungen durch derartige Sanktionen für die EU tatsächlich sehr hoch sind10, und zwar für verschiedene EU-Staaten in sehr unterschiedlichem Maß.11 |
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| Um die teilweise erheblichen finanziellen Belastungen wie auch drohende Energielieferengpässe ohne russisches Gas und Öl abzuwenden, braucht es ein neues Zusammenrücken der EU wie auch insgesamt der internationalen Gemeinschaft all jener Staaten, die daran interessiert sind, dass sich solche Übergriffe künftig entschieden nicht rechnen, sei es auf osteuropäische Staaten oder auch auf Taiwan. Es braucht ein freiwilliges internationales Zusammenrücken, das die EU-Staaten stärkt, sodass sie die effektivsten Sanktionen setzen können, obwohl sie dafür die Hauptlast tragen müssen, weit mehr als etwa die USA. Und es braucht eine neue Solidarität auf der Ebene eines zivilgesellschaftlichen Engagements innerhalb von Europa und auch zwischen den unterschiedlich betroffenen europäischen Staaten. Mit diesen Abstützungen auf unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ebenen könnte die EU den genannten radikalen Sanktionen zustimmen – vorausgesetzt, es gibt dafür einen breiten Rückhalt in der Bevölkerung. Dafür muss jetzt eine Bewegung entstehen, die von verschiedenen Playern getragen wird – nicht zuletzt von Kirchen und Religionsgemeinschaften. |
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3 Wobei EU-Staaten (ausdrücklich auch Deutschland) vor dem Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-Zahlungssystem zurückschrecken, weil es auf ein Ende der Lieferung von Gas, Öl und Kohle hinauslaufen würde, da diese ohne SWIFT nicht bezahlt werden können.
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7 Dieses Wettrüsten war schon während des Kalten Krieges ein hochgefährliche Angelegenheit. Was wir jetzt im 21. Jahrhundert zu erwarten haben, ist aber nicht ein Neuaufguss des Kalten Kriegs, sondern eine weit gefährlichere Situation. Denn gegenwärtig gibt es keine fest definierten Blöcke mehr. Die gegenwärtige Auseinandersetzung um die Ukraine ist symptomatisch dafür. Vgl. dazu Herfried Münkler, Die Ukraine ist verloren, Interview mit Nils Markwardt, Die Zeit, 24. 2. 2022. Online: https://www.zeit.de/kultur/2022-02/herfried-muenkler-ukraine-russland-geopolitik
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8 Selensky hat den Westen mehrfach um diese maximalen Sanktionen gebeten.
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9 Russland hat zwar ein eigenes Finanztransaktionssystem entwickelt. Dieses ist aber offenbar gegenwärtig noch nicht für internationalen Zahlungsverkehr lauffähig. Vgl. dazu Christen / Felbermayr: Sanktionspolitik gegen Russland, ebd. 71. Ein Erdgas- und Ölembargo würde laut aktuellen Berechnungen die russische Wirtschaft in weit höherem Maße schwächen als alle anderen bisher angezielten Sanktionen (trotz neuen Lieferverträgen mit China, denn aus den westrussischen Gasvorkommen fehlen dazu noch die nötigen Pipelines). Es spricht viel dafür, dass Putin einen solchen Schritt aufgrund seiner bisherigen „Lernerfahrungen“ der EU nicht zutraut.
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11 So ist die Abhängigkeit von Erdgas im Allgemeinen und von russischem Erdgas im Besonderen für Italien besonders hoch. Vgl. Klimkeit / Zacharias, Der Hammer – für beide Seiten, a.a.O.
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