Sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen[1],
sehr geehrte Angehörige, Freundinnen und Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,

zu den einflussreichsten Beiträgen für das Selbstverständnis von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern gehört der 1917 gehaltene Vortrag des Soziologen, Ökonomen, Juristen und Philosophen Max Weber „Wissenschaft als Beruf“[2]. In einen Gedankengang Webers möchte ich Sie nun mitnehmen:

Ausgerechnet die entscheidende Frage der menschlichen Existenz kann die Wissenschaft nicht beantworten: Was soll ich tun? Oder auch: Wie soll ich leben?

Vielleicht, liebe Absolventinnen und Absolventen, war Ihnen das schon vor Ihrem Studium klar, vielleicht haben Sie es aber auch erst später gemerkt. Wissenschaft sagt Ihnen nicht, für welche Politik Sie sich engagieren, an welcher Kunst oder Musik Sie sich berauschen sollen oder welche Menschen zu lieben lohnt. Dabei sind doch genau das die Dinge, die uns Menschen zutiefst umtreiben.

Wissenschaft produziert auch nichts, von dem man das tägliche Leben bestreiten könnte. Wissenschaft bereitet keine Lebensmittel zu, Wissenschaft beseitigt keine Lawinenschäden, Wissenschaft repariert kein undichtes Hausdach.

Dann aber muss gefragt werden: Lohnt sich Wissenschaft überhaupt?

Max Weber zufolge kann Wissenschaft durch die Einhaltung logischer und methodischer Regeln etwas Einzigartiges erreichen: Weber nennt es „Klarheit“. Wissenschaft nimmt Ihnen nicht ab, sich in ihrem alltäglichen Leben zu orientieren und sich an Wertvorstellungen zu binden. Aber Wissenschaft zeigt, wie man in der Entscheidung für einen bestimmten Wert konsequent sein kann. Wenn es erstrebenswert ist, den Klimawandel zu stoppen, dann zeigt dir die Wissenschaft, was wir schon über die Erde, die Sonne, die Atmosphäre und über menschliches Handeln im industriellen und digitalen Zeitalter herausgefunden haben, und sie zeigt dir, was in dieser dramatischen Herausforderung der Menschheit machbar ist und was nicht. Wenn das Christentum die Religion deiner Wahl ist oder es dich sonstwie umtreibt, dann kann die Wissenschaft seine Überlieferungen und Ausdrucksformen, seine Wege und Irrwege deuten und verstehen lehren.

Wissenschaft hat nur dann Relevanz, wenn man sich schon vorab entschieden hat, sie in das eigene Weltbild zu integrieren. Diese Entscheidung, liebe Absolventinnen und Absolventen, haben Sie getroffen, als Sie ein Studium begonnen haben. Vielleicht ist dabei etwas ganz anderes herausgekommen als Sie gedacht hatten – solche Erfahrungen gehören dazu, sie sind Bestandteil des Lernens. Nun, da Sie Ihr Studium abgeschlossen haben, spricht Ihnen die Universität Innsbruck zu, in dem Bereich und auf dem Niveau Ihres Studiums Klarheit erlangt zu haben. Manche Ihrer so erworbenen Kompetenzen sind sofort anwendbar, andere bleiben abstrakt. Mit manchen lässt sich eine Menge Geld verdienen, mit anderen eher nicht. Manche von Ihnen werden im akademischen Umfeld weiterforschen, andere drängt es in neue Lebens- und Berufsfelder.

Gehen Sie verantwortungsvoll mit Ihren Einsichten um. Tun Sie Ihr Möglichstes, um auch anderen zur Klarheit zu verhelfen. Aber stehen Sie auch dazu, wo Sie selbst keine Klarheit haben, oder wo Ihnen das Studium zeigen konnte, dass es im Letzten gar keine Klarheit geben kann – und das ist vielleicht sogar der häufigste Fall.

Ein letzter Gedanke noch im Hinblick darauf, dass einige von Ihnen die Titel Bachelor, Master und PhD erhalten, die es bei uns noch gar nicht so lange gibt. 1917 sagt Max Weber:

„[Wir können] bei uns mit Deutlichkeit beobachten: daß die neueste Entwicklung des Universitätswesens auf breiten Gebieten in der Richtung des amerikanischen verläuft.“[3]

Manche Entwicklungen, meine Damen und Herren, kommen offenbar nie zu einem endgültigen Abschluss! Und so hoffe ich, liebe Absolventinnen und Absolventen, dass auch Ihr Interesse an der Wissenschaft mit dem heutigen Tag nicht endet.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und meine herzliche Gratulation zu Ihren Studienabschlüssen!