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| Sehr geehrte Absolventinnen und Absolventen[1], sehr geehrte Angehörige, Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren, |
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| dass Selfmade-Gelehrte abseits vorgezeichneter Karrierepfade renommierte Bücher verfassen und auf Professuren gelangen können, ist im heutigen Universitätssystem nicht mehr vorgesehen und nahezu unmöglich. |
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| Zu den Letzten dieser Art dürfte der im Jahr 2000 verstorbene Wissenschaftsphilosoph Helmut Seiffert gehört haben, der – wenn ich richtig informiert bin – alles Mögliche, aber nie Philosophie studiert hat, jedenfalls nicht mit einem Studienabschluss, den er ähnlich wie wir heute hätte feiern können. |
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| Seifferts vierbändige „Einführung in die Wissenschaftstheorie“ halte ich nach wie vor für lesenswert, ganz gleich was man studiert oder wofür man sich interessiert. |
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| Seiffert arbeitet unter anderem zwei wissenschaftliche Methoden heraus – Sie werden gleich merken: Das ist nicht besonders revolutionär, aber meiner Meinung nach nirgends so pointiert und an leicht verständlichen Beispielen dargestellt wie bei ihm. |
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| Die eine Methode ist die historische. Beim historischen Forschen fragt man „Wie ist das gemeint?“. Es geht nicht ums Urteilen, sondern ums Verstehen. Die Erläuterung eines Gesetzestextes, die Rekonstruktion früherer Gesellschaftsformen anhand archäologischer Funde oder das Übersetzen eines Textes von einer Sprache in eine andere: das alles ist historisches Arbeiten. |
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| Die andere Art ist die systematische. Dabei geht es um die Unterscheidung von richtig und falsch: angefangen von mathematischen Beweisführungen über die Entwicklung funktionsfähiger technischer Konstruktionen bis hin zur Urteilsbildung in Fragen der Moral. |
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| Man könnte es so sagen: Die historisch arbeiten, sind „Jäger und Sammler“. Sie sind neugierig auf dieses und jenes, auch ohne dafür eine Anwendung zu wissen. Die systematisch arbeiten sind dagegen „Weltverbesserer“. Sie widmen sich Dingen, die unmittelbare Konsequenzen haben können und haben sollen, die aus sich heraus gleich den nächsten Schritt mitdenken und hervorbringen. |
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| Im Wissenschaftsbetrieb gibt es beides nur selten für sich allein. Nicht einmal die Archäologie arbeitet immer historisch, nicht einmal die Mathematik arbeitet immer systematisch. Es gibt kaum einen Vortrag, einen wissenschaftlichen Artikel oder ein ganzes Buch, das ausschließlich historisch oder ausschließlich systematisch vorgeht. |
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| Dennoch hat mir Seifferts Unterscheidung geholfen, Wissenschaft besser zu verstehen. Sie hat mir auch geholfen, Wissenschafterinnen und Wissenschafter besser zu verstehen. Die meisten lassen sich nämlich ziemlich eindeutig einem Schwerpunkt zuordnen. Manche stürzen sich auf die abwegigsten Themen und entfalten kindliche Begeisterung über alles, was es zu entdecken gibt – ganz gleich, ob man es braucht oder nicht. Andere tragen den Drang in sich, eine bestimmte Sicht auf die Welt zu vertiefen und die Welt dadurch zu verändern. |
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| Und diese Unterscheidung gibt es nicht nur in der Wissenschaft. Auch im Alltag treffen sie ständig aufeinander, wenn Menschen ins Gespräch kommen über das, was sie beschäftigt: die historischen Interessen, die verstehen wollen, und die systematischen Interessen, die urteilen wollen – und allzu oft reden sie aneinander vorbei. |
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| Liebe Absolventinnen und Absolventen! Vielleicht kann ich Ihnen mit Helmut Seiffert erschließen, warum in manchen Prüfungen von Ihnen präzise Urteile und eindeutige Stellungnahmen verlangt wurden, während man Sie anderswo genau davor gewarnt und Sie auf das zurückgeworfen hat, was Sie noch nicht kennen oder nicht ausreichend berücksichtigen. Das lag nicht immer an den vorgeschriebenen Prüfungsinhalten, sondern auch daran, dass es unter den Lehrenden beides gibt: die „Historikerinnen und Historiker“ genau wie die „Systematikerinnen und Systematiker“. |
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| In Zukunft wird man von Ihnen oft systematische Kompetenzen einfordern: „Was sagst du denn dazu? Das hast du doch studiert!“ Und ich hoffe, Ihr Studium konnte Ihnen vermitteln, dass das systematische Urteil immer umfangreiches Wühlen in den schon längst vorliegenden Quellen und Einsichten voraussetzt; und dass viele Dinge nicht so einfach zu bewerten sind wie es Außenstehende oft von der Wissenschaft erwarten. |
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| Seien Sie daher in Zukunft Anwältinnen und Anwälte des präzisen Fragens. Widersprechen Sie, wo andere vorschnell urteilen. Und bleiben Sie neugierig, wo es immer wieder Neues und neues Altes zu entdecken gibt. |
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| Zu Ihren Studienabschlüssen gratuliere ich Ihnen herzlich! Genießen Sie den heutigen Tag und bleiben Sie der Universität Innsbruck auch in Zukunft verbunden. |
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[1] Die Ansprache wurde gehalten für Absolventinnen und Absolventen der Fakultät für LehrerInnenbildung und der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät.
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