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Girard und H. Grivois / J.-P. Dupuy: Postmoderner Pluralismus oder Komplexität aus Einfachem?

Autor:Schwager Raymund
Veröffentlichung:
Kategorieartikel
Abstrakt:
Publiziert in:Zeitschrift für Katholische Theologie 120 (1998) 205-208.
Datum:2001-10-09

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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Die Rede vom Pluralismus klingt im gegenwärtigen kulturellen Leben modern, während umfassende Theorien - schon vor jeder kritischen Prüfung - den Verdacht wecken, offen oder subtil totalitär zu sein. Überspielen sie nicht die Unübersichtlichkeit unserer Welt? Ein umgekehrte Frage drängt sich aber ebenso auf. Zeigt nicht die Komplexitäts- und Chaosforschung der letzten Jahrzehnte, daß aus einfachsten Mechanismen komplexeste und ästhetisch faszinierende Gestalten entstehen können? Manche Forscher überlassen deshalb die Rede vom Pluralismus dem unverbindlichen Geplauder der Medien und arbeiten weiterhin am Versuch, die Komplexität der Phänomene von möglichst einfachen Vorgängen her zu deuten. Zu ihnen zählen Henri Grivois, Psychiater an der Notfallstation eines zentralen Pariser Spitals, und Jean-Pierre Dupuy, Leiter der Forschungsabteilung CREA (= Centre de Recherches d'Epistémologie Appliquée) an der Ecole Polytechnique in Paris und zugleich Professor für Politische Ökonomie an der renommierten Stanford University in Kalifornien. Aus der Begegnung von Grivois mit der CREA ist eine Arbeit entstanden, die einen Zusammenhang zwischen mentalen und sozialen Mechanismen herstellen, die wirren Welten von Psychosen und Paniken deuten und zugleich die modernsten Forschungen über den Ursprung des Mentalen, Sozialen und Religiösen integrieren will. (1)

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Gegen die herrschende Tendenz, die von einer unreduzierbaren Vielfalt von Psychosen spricht, vertritt Grivois die Ansicht, daß alle psychotischen Phänomene Weiterentwicklungen einer einheitlichen Urerfahrung oder Urszene sind und daß es eine Kontinuität zwischen Gesunden und Kranken gibt. Er stützt sich dabei auf seine dreißigjährige Praxis mit Menschen, die noch ganz am Anfang ihrer psychotischen Probleme standen und die alle von einer ähnlichen Erfahrung zu ihm sprachen: Ich sehe mich im Zentrum der Welt, umgeben von allen anderen, bald bedroht von ihnen, bald verschmolzen mit ihnen. Alle bilden mit mir nur eine undifferenzierte Menge, aber das verwirrende Gefühl ist klar da, daß ich im Zentrum von allen stehe. Später - nach einsetzender Selbstdeutung oder üblicher ärztlicher Behandlung - wird die Anfangserfahrung meistens verdrängt, dafür stabilisiert sich das Gefühl der Zentralität in der Vorstellung, ein Gott oder Teufel, ein Herrscher oder ein Nichts, ein Außerirdischer oder Unterirdischer zu sein.

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Durch eine ähnliche einfache Urszene erklärt René Girard, Professor für Literaturwissenschaft an der Stanford University und Chercheur associé an der CREA, den Ursprung der komplexen menschlichen Gesellschaften, Kulturen und Religionen. In einer undifferenzierten und gewalttätigen Menge entsteht erstmals Ordnung, wenn sich plötzlich alle gegen einen wenden. In aggressiver Erregung und wirrer Panik projizieren sie alles Negative auf ihr Opfer, erfahren im kollektiven Akt seiner Ausstoßung unter sich aber emotionale Einmütigkeit und damit den Beginn eines neuen gemeinsamen Lebens. Das Opfer erscheint ihnen als sakral, d.h. als verflucht und segensbringend, als tremendum und fascinosum zugleich, weil einerseits alle negativen Projektionen auf es konvergieren und weil anderseits im Blutrausch seiner Tötung Einmütigkeit und Heil erfahren wird. Der eine, den es zufällig trifft, gewinnt durch den Mechanismus der Ausstoßung eine Transzendenz und hierarchische Stellung, diese ist aber nur ein Produkt des Kollektivs und keine real vorgegebene Größe. Alle späteren religiösen und gesellschaftlichen Institutionen leitet Girard - durch vielfache Abzweigungen - aus dieser einfachen Urszene ab.

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Treffen sich Grivois und Girard? Nehmen sie für das Mentale und das Gesellschaftliche die gleiche Urszene an, wobei der Unterschied nur darin bestehen würde, daß der erstere den Vorgang aus der Perspektive des Einen beschreibt, während der letztere den Mechanismus aus der Perspektive der Vielen sieht? Eine Koordination beider Theorien legt sich tatsächlich nahe, und zwar nicht bloß wegen der Ähnlichkeit der Urszene. Beide erklären auch ihr Entstehen durch einen elementaren Mechanismus der Nachahmung. In den Menschen findet sich - so Grivois - eine angeborene Tendenz, nicht nur die Verhaltensweisen anderer zu kopieren, sondern schon ihren einfachsten Gesten und Bewegungen instinktiv zu folgen, eine Tendenz, die jeder präzisen Vorstellung und jedem reflexen Bewußtsein vorausgeht und deshalb kaum beachtet wird. Die meisten Nachahmungen werden gleich wieder vergessen. Die Abweichung und der Weg zur Psychose setzt dort ein, wo einer beginnt, von den unscheinbaren Akten betroffen zu werden. Er gewinnt den Eindruck, alle würden bewußt auf ihn achten, weil sie seine Bewegungen ständig nachahmen. Dieser Eindruck weckt beim Betroffenen ein bewußtes Achten auf andere und damit ein auffallendes Verhalten, was diese ihrerseits dazu verleitet, nun tatsächlich auf ihn zu schauen. So wird sein erster rein subjektiver Eindruck durch nachfolgende Akte scheinbar objektiv bestätigt. Alle schauen tatsächlich auf ihn, ohne daß er weiß weshalb: Er steht auf geheimnisvolle Weise im Zentrum der Menschen und der Welt.

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Wie Grivois so spricht auch Girard von einer Nachahmung, die jeder reflexen Erkenntnis vorausgeht und das menschliche Tun unbewußt leitet. Diese Erkenntnis drängte sich ihm durch die Entdeckung auf, daß große Schriftsteller (Stendhal, Flaubert, Proust, Dostojewski, Shakespeare, Joyce, etc.) trotz der unterschiedlichen Welten, die ihre Werke spiegeln, in einem wesentlichen Punkt übereinstimmen. Alle schreiben ihren zentralen Figuren kein spontanes Verlangen und Wünschen zu, sondern lassen sie stets die Wünsche und Begierden von Vorbildern, auf die sie stoßen, instinktiv nachahmen. Girard nennt dies Mimesis (= Nachahmung fremden Verlangens). Bei den Dichtern entdeckte er auch, wohin diese Mimesis führt. Tendieren zwei Verlangen auf das gleiche Objekt, dann manövrieren sich die Begehrenden unbemerkt in Rivalitäten hinein, sei es in der Form des 'französischen Dreiecks' oder im Kampf um eine politische oder wirtschaftliche Stellung oder einfach im Streit um ein 'Nichts'. Werden solche Rivalitäten nicht durch starke gesellschaftliche Institutionen niedergehalten, stecken sie weitere Menschen an, was leicht zu allgemeinen Krisen führen kann. Die Institutionen - als Gegenmittel zur Rivalität und Gewalt - sind für Girard aber, wie schon angedeutet, nicht einfach vorgegeben, er versucht vielmehr durch eine kombinierte Analyse von literarischen und ethnologischen Werken ihren Ursprung mittels der Mimesis zu erhellen. Die elementare Nachahmung wirkt ansteckend und ist insofern gefährlich, sie läßt aber ebenso die diffuse Gewalt in die Tat aller gegen einen umkippen, wodurch die gesellschaftliche Urszene mit ihrer zentralen Scheidung zwischen Innen und Außen, Profan und Sakral entsteht. Der einfache Mechanismus der Mimesis erklärt Unordnung und Ordnung, Komplexitäten im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich.

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Im Werk mécanismes mentaux, mécanisme sociaux kommt ein dritter wichtiger Autor zu Wort, Daniell Dennett, einer der führenden Kognitionswissenschaftler der USA. Seine Analysen stehen zunächst in keinem direkten Zusammenhang mit Grivois. Er frägt vielmehr: Wie weben wir unser ich?, und er bringt Vergleiche mit tierischen Gesellschaften, mit Termitenhaufen oder Bienenschwärmen, in denen die einzelnen Tiere nur über wenige und einfache Reaktionsweisen verfügen, die aber durch Wiederholungen oder Interaktionen Gebilde oder soziale Ordnungen von hoher Komplexität schaffen. Auf ähnliche Weise weben - so Dennett - Erzählungen, die wir nicht gewählt haben, unser Ich. Texte sind nicht in erster Linie das bewußte und gewollte Produkt eines Ichs, sondern dieses ist umgekehrt die einfache Frucht von komplexen Erzählungen. Es ergibt sich als emergente Eigenschaft, als nützliche Illusion, eines Gehirns, das Informationen über seine eigene Aktivität braucht, aber nicht raffiniert genug ist, sich selber in den millionen- und milliardenfachen Interaktionen seiner Zellen zu durchschauen. Als erzählerisches Gravitationszentrum ist - gemäß Dennett - die einfache Vorstellung eines Ichs das Ergebnis komplexer erzählerischer und zugleich neurologischer Prozesse.

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Hier zeigen sich Zusammenhänge mit den Arbeiten von Grivois und Girard, die J.-P.Dupuy in seiner Einleitung bewußt herausarbeitet. Die ganze Entwicklung der modernen Kognitionswissenschaften läuft nach ihm darauf hinaus, das individuelle Subjekt als ein Quasi-Subjekt, d.h. als ein Kollektiv zu begreifen, das die Eigenschaften der Subjektivität hat. Gesellschaftliche und mental-subjektive Mechanismen bilden deshalb keinen Gegensatz mehr. Komplexe Interaktionen einfacher Mechanismen entwickeln Attraktionspunkte, auf die alles konvergiert und aus denen neue Eigenschaften emergieren, das Ich beim einzelnen Menschen, Götter oder hierarchische Gestalten in der Gesellschaft und Phantome bei psychotischen Menschen.

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Bleibt dabei die Freiheit, die dem modernen und postmodernen Denken so wichtig ist, auf der Strecke? Dupuy glaubt dies nicht, denn mathematische Modelle zeigen ihm, daß minimale Abweichungen innerhalb eines Mechanismus zu total anderen Resultaten führen können. Ohne auf diese Modelle näher einzugehen, zeigt Girard in seinem eigenen Beitrag durch eine Analyse der biblischen Erzählung von der Ehebrecherin, wie innerhalb der Welt der Nachahmung eine Situation entstehen kann, bei der minimale Veränderungen - freie Entscheidungen - große Folgen haben können: den ersten Stein werfen, dem alle folgen, oder aus dem Kreis der Ankläger ausscheren, was eine andere Kette von Nachahmungen in Gang setzt.

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Und das Resultat all dieser Analysen? Der postmoderne Pluralismus mit seinem Hauch der Beliebigkeit muß nicht unser Schicksal sein. Verrät er nicht eher eine geistige Müdigkeit, die vor der Aufgabe, die komplexen Interaktionen einfacher Mechanismen und Prozesse zu verfolgen, zurückscheut? Dupuy, der weitere Arbeiten zur politischen Ökonomie und zur Massenpsychologie vorgelegt hat, wird nicht vom Pluralismus versucht und überwältigt, er zeigt eher ein Erstaunen, ja fast ein geistiges Erschrecken angesichts der Entdeckung, daß sich heute in den unterschiedlichsten Bereichen immer wieder analoge Mechanismen zeigen, bei denen einfache Verhaltensweisen neue Qualitäten entstehen lassen. Der Sündenbockmechanismus, bei dem aus mimetischen Interaktionen Hierarchisch-Sakrales entspringt, liefert ihm ein theoretisches Grundmodell für unterschiedlichste Disziplinen.

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1. Henri Grivois u. Jean- Pierre Dupuy (Hg), mécanismes mentaux, mécanismes sociaux - de la psychose à la panique. ed. la découverte Paris 1995 (ISBN 2-70701-2414-1).

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