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„Wirklich“, weil von Gott geliebt
(Eine Predigt zum 6. Sonntag der Osterzeit (im Anschluss an 1. Joh 4,7-10), gehalten in der Jesuitenkirche am 4. Mai 2024 um 11.00 Uhr)

Autor:Niewiadomski Jozef
Veröffentlichung:
Kategoriepredigt
Abstrakt:
Publiziert in:
Datum:2024-05-07

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

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„Repetitio est mater studiorum“, sagt ein altes Sprichwort. Es soll nun als Rechtfertigung dafür dienen, dass ich heute mit einer alten, vermutlich bestens bekannten Geschichte beginne: der Geschichte von einem Holzpferd. Es lebte länger im Kinderzimmer als irgendjemand sonst. Spielzeuge kamen und gingen. Immer wieder ersetzten die modernen Sachen jene Spielzeuge, die nicht mehr up to date waren. Nur das Holzpferd blieb. Es war so alt, so schäbig, so abgegriffen, dass es fast schon wiederum interessant geworden ist: Interessant für Besucher, interessant für die Kinder selbst. Eines Tages lag ein Stoffhase Seite an Seite mit dem alten Holzpferd. Der Stoffhase war neu im Zimmer. Er war auch neu gemäß der Spielzeuglogik: mit modernsten Tricks ausgestattet, in heutigen Farben gestylt, erlebnishungrig. Ein Kind der Werbung, geradezu lechzend nach Anerkennung seines Wertes und nach Entdeckung des Innovationspotenzials, das in ihm - dem letzten Schrei der Spielzeugmode - verborgen war. – „Du“ - fragte der Stoffhase das alte Holzpferd eines Tages, „kannst Du mir sagen, was wirklich ist? Bedeutet es, neueste Dinge in sich zu haben, die summen oder Kleider zu haben, die auffallen?“ – „Wirklich? Wirklich!“ - antwortete das Holzpferd, „wirklich ist nicht, wie man gemacht ist. Wirklich ist etwa, was an einem geschieht. Wenn ein Kind dich liebt für lange, lange Zeit, dich liebt nicht nur, um mit dir zu spielen, dich liebt nicht nur, um vor anderen Kindern anzugeben und zu protzen, sondern dich wirklich liebt, dann wirst Du wirklich!“ – „Tut es weh?“ - fragte der Stoffhase. – „Manchmal schon!“ –  antwortete das alte Holzpferd. „Wenn du aber wirklich bist, wirklich wirklich, dann hast du nichts dagegen, dass es weh tut!“ – „Geschieht es auf einmal?“ - wollte der Hase wissen, „geschieht es so, wie wenn man aufgezogen wird?“ – „Nein! Es geschieht nicht auf einmal“ – sagte das Holzpferd.  „Du wirst sehen, es dauert lange, sehr lange sogar. Das ist auch der Grund, warum es nicht oft an denen geschieht, die zum Wegwerfen gekauft werden. Oder aber, die schön gehalten werden müssen, die zu teuer sind, deswegen bloß ausgestellt werden, damit die Kinder mit ihnen prallen können. Nein! Wirklich. Das geschieht nicht auf einmal. Es ist kein Event. Es raubt dir auch nicht den Atem in einem Augenblick. Es geschieht langsam und tagtäglich. Und im Allgemeinen sind zu der Zeit, da du wirklich sein wirst, schon die Augen ausgefallen, du bist wacklig in den Gelenken, ein bisschen schäbig im Aussehen, oder gar hässlich. Die Farbe blättert ab und die Kleider sehen altmodisch aus. Aber diese Dinge sind überhaupt nicht wichtig. Denn: Wenn du wirklich bist, kannst du nicht hässlich sein! Ausgenommen in den Augen von Leuten, die überhaupt keine Ahnung haben.“ – „Ich glaube, du bist wirklich“ – sagte der Stoffhase ganz leise und bereute es sofort. Es war ja politisch nicht korrekt, was er da sagte, deswegen bereute der Hase es sofort. Das alte Holzpferd könnte doch empfindlich sein, seines Alters wegen und seines Aussehens, der vielen Mängel, die man doch auf den ersten Blick sah. Aber das Holzpferd lächelte und wiederholte nur: „Wirklich ist das, was an einem geschieht. Die Liebe macht wirklich!” 

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Liebe Schwestern und Brüder, die bekannte Geschichte rührt am Nerv vieler unserer Erfahrungen. Man kann sie als das Bild für das Spielzimmer unseres Lebens sehen, das Spielzimmer mit all den Spielzeugen, die wir uns in unseren Breitegraden problemlos leisten können. Mit mechanischen und lebendigen Spielzeugen, gestylt nach neuesten Trends und Moden, produziert nach dem letzten Stand der Technik, erzogen nach den Mechanismen der Werbung. All der Luxus dieses so verstandenen Alltags, der Luxus einer Konsumkultur, macht uns nur die alte Frage des Stoffhasen schmerzhaft bewusst: “Was ist wirklich?” „Was ist wirklich?“, fragen vor allem unzählige Menschen, wenn sie plötzlich alle Sicherheiten verlieren, wenn der Alltag von heute auf morgen fragwürdig wird. Weil man mit einer unerwarteten Krebsdiagnose konfrontiert wird, weil einem die Decke auf den Kopf fällt und all das, was bisher für die Lebensqualität bürgte – das Spielzimmer, das Arbeitszimmer, gar die Öffentlichkeitsrampe –, weil all das seinen Reiz verliert, sich gar zu einer Illusion verflüchtigt. Angesichts dessen, was an ihnen geschieht. Diese existentielle Begegnung mit der Endlichkeit mischt die Karten neu, wirbelt die rational begründeten Philosophien der reinen Diesseitigkeit durcheinander. Mit einer entwaffnenden Ehrlichkeit bekannte dies der an Bauchspeicheldrüsenkrebs sterbende große französische Philosoph Jaques Derrida in seinem letzten Interview: „Ich habe niemals leben gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müsste bedeuten, zu sterben lernen, der absoluten Sterblichkeit (ohne Heil, weder Auferstehung noch Erlösung – weder für sich selbst noch für den anderen) Rechnung zu tragen, um sie zu akzeptieren.“ Er hat es also nicht geschafft, die Transzendenz in seinem persönlichen Leben zu dekonstruieren. „Ich habe niemals leben gelernt“, bekannte freimütig der große Philosoph, der in die Kulturgeschichte als Meister der Dekonstruktion einging. Könnte er mit der Weisheit des alten Holzpferdes etwas anfangen, einer Weisheit, die nicht bei den facta bruta – den nackten, und ihrer Nacktheit wegen auch brutalen, Tatsachen ansetzt, sondern bei dem was an einem geschieht? Geschieht, nicht nur im Sinne der unausweichlichen Sterblichkeit, sondern durch den Einbruch der Transzendenz in das menschliche Leben.

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Liebe Schwestern und Brüder, die Geschichte vom Holzpferd rührt am Nerv vieler unserer Erfahrungen. Das alte Holzpferd liefert uns eben eine Interpretationshilfe für den tieferen Sinn des Wortes Gottes, das uns heute trifft. „Nicht darin besteht die Liebe Gottes, dass wir Gott geliebt haben“ (1 Joh 4,10), dass wir uns im Stress des Engagements und der Frömmigkeit selbstverwirklichen oder aber im traditionellen alltäglich katholischen brav sein verharren. Liebe besteht darin, dass ER uns liebt und wir erst so wirklich werden. Wirklich mit all den Kanten, mit Haut und Haaren, mit Dreck und Speck. Wirklich mit all den Verletzungen, mit wackligen Gelenken und noch wackligeren Biographien. Denn: Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt, sondern dass er uns geliebt hat. Dass er uns das Leben schenkt, jedem von uns beim Namen ruft: „Mein bist Du. Unverwechselbar. Nicht ersetzbar. Selbst dann nicht, wenn du allzu sehr ‚Eigen‘ wirst werden. Nicht ganz so, wie ich mir das vielleicht wünschen würde. Aber: Ich liebe Dich ja – selbst in deinem Egoismus, selbst in deiner Sünde, selbst im Abgrund, in den du hineinfällst. Selbstverschuldet hineinfällst. Selbst da liebe ich Dich. Denn: ich habe dich erwählt, nicht bloß, um mit Dir zu spielen, nicht um mit Dir und deinem glänzenden Erfolg anzugeben und auch nicht, um mich am Skandal deines Lebens zu ergötzen. Nein! Ich liebe Dich so wie Du bist. Und ich liebe deine Art, meine Liebe zu beantworten. Gar deine Verweigerung, deine Aggression, deinen Zynismus, deine Gewalt. Gewalt, die es schafft, jene Arme, die dich umarmen wollen, anzunageln, sie zu kreuzigen. Denn: ich bin dein Gott. Und durch mich bist du ‚wirklich‘!.“

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